Nie mehr „rote Kachel“: Das stille Ende der Corona-Warn-App | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 27.05.2023 08:22

Nie mehr „rote Kachel“: Das stille Ende der Corona-Warn-App

Die Abschlussrechnung für die App steht noch aus. Die Kosten dürften aber bei über 220 Millionen Euro liegen, deutlich mehr als ursprünglich geplant. (Foto: Oliver Berg/dpa)
Die Abschlussrechnung für die App steht noch aus. Die Kosten dürften aber bei über 220 Millionen Euro liegen, deutlich mehr als ursprünglich geplant. (Foto: Oliver Berg/dpa)
Die Abschlussrechnung für die App steht noch aus. Die Kosten dürften aber bei über 220 Millionen Euro liegen, deutlich mehr als ursprünglich geplant. (Foto: Oliver Berg/dpa)

In den ersten Monaten der Corona-Pandemie vor über drei Jahren gab es noch keine Impfstoffe. Experten rieten besorgten Bürgern vor allem, sich mit Masken zu schützen.

Große Hoffnungen setzten die Bundesregierung und das Robert Koch-Institut (RKI) aber auch auf die Corona-Warn-App, die am 16. Juni 2020 in den Stores von Apple und Google veröffentlicht wurde. Knapp drei Jahre später wird die offizielle Corona-Warn-App des Bundes in den „Schlafmodus“ versetzt und damit faktisch nutzlos. Zeit für eine Bilanz:

Die App hat mit Hilfe von Bluetooth-Signalen ermittelt, welche Smartphones einander nahegekommen sind. Wurden Nutzerinnen oder Nutzer positiv auf Corona getestet, konnten sie das Testergebnis in der App teilen, damit andere User, die sich in ihrer Nähe aufgehalten hatten, mit der berühmten „roten Kachel“ gewarnt werden. Ziel war es, die Infektionsketten möglichst schnell zu unterbinden, indem die Gewarnten rasch reagieren. Sie sollten sich dann selbst testen lassen und sich bei Bedarf dann auch isolieren.

Zu Beginn der Debatte wurde tatsächlich überlegt, ob nicht klassische Ortungsinformationen wie GPS ausgewertet werden sollen. Damit wäre aber keine punktgenaue Erfassung einer riskanten Begegnung möglich gewesen. Außerdem warnten Datenschützer davor, dass damit sensible Standortprofile entstanden wären. „Die Corona-Warn-App hat gezeigt, wie eine Kontakt-Verfolgung anonym, sicher und ohne Massenüberwachung erfolgreich umgesetzt werden kann“, sagt rückblickend Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC). „Eine Massenüberwachung hätte die App keinen Deut effektiver gemacht. Ganz im Gegenteil: Sie wäre einfach nicht installiert worden.“

Verbindliche Zahlen gibt es nur für die Downloads, nämlich knapp 48,7 Millionen. Da etliche User die App beispielsweise nach einem Handywechsel mehrfach installiert haben oder manche die App auch wieder deaktiviert haben, liegt die Zahl der aktiven Anwenderinnen und Anwender niedriger. Sie dürfte nach RKI-Schätzungen in den Spitzenzeiten bei rund 33 Millionen gelegen haben. Dieser Wert ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Die Bundesregierung hatte sich allerdings erhofft, dass bis zu 60 Prozent der Bevölkerung die App verwenden, also rund 50 Millionen.

Eine umfassende wissenschaftliche Bewertung steht in dieser Frage noch aus. Einige Zahlen stehen aber schon fest: Rund neun Millionen Menschen haben ihre Testergebnisse über die Corona-Warn-App geteilt. Mehr als 60 Millionen Mal wurden PCR-Testergebnisse an die App übermittelt, die Resultate von Antigen-Schnelltests wurden mehr als 180 Millionen Mal über die App an die Nutzer gesendet.

Das Ökosystem der App hat nach Einschätzung von Experten maßgeblich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland beigetragen, beispielsweise in den Gesundheitsämtern oder den Testlaboren. Neuartig war auch, dass ein großes Projekt mit offenem Quellcode entwickelt wurde. „Die Corona-Warn-App war mehr als nur eine Pandemie-App“, sagt die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (Linke). „Sie war ein großartiges Beispiel für eine neue Art, Software der öffentlichen Hand zu entwickeln: als Open Source und in einem wirklich offenen Prozess, gemeinsam mit der kompetenten Zivilgesellschaft. Nur so konnte sie zur weltweit erfolgreichsten Corona-App werden.“ Domscheit-Berg bemängelt aber, dass die Änderung nicht von Dauer gewesen sei. Weder die alte noch die neue Bundesregierung habe diesen fortschrittlichen Ansatz je bei einem anderen Software-Projekt wiederholt.

Die Abschlussrechnung steht ebenfalls noch aus. Die Kosten dürften aber bei über 220 Millionen Euro liegen, deutlich mehr als ursprünglich geplant. Die Mittel flossen vor allem an den Softwarekonzern SAP und die Deutsche Telekom (T-Systems) für die Entwicklung und Wartung der App sowie den Betrieb eines Call-Centers für die Anwender.

Ob sich dieser Aufwand gelohnt hat, ist umstritten. Andrew Ullmann, der gesundheitspolitischer Sprecher der FDP Bundestagsfraktion, sagt: „Die Corona-Warn-App war nicht der Gamechanger der Pandemie. Keiner kann bisher genau sagen, wie viele Erkrankungen durch sie verhindert wurden.“ Die App habe aber auch einen Beitrag geleistet. „Sie hat vor allem angedeutet, was im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen machbar ist, wenn man den Willen hat und die Mittel dazu bereitstellt. Am Ende müssen wir uns aber auch die Frage stellen, ob die Kosten im Verhältnis standen. Hier habe ich mir noch keine endgültige Meinung gebildet.“

Für SAP-Technikchef Jürgen Müller steht dagegen fest, dass die App zusammen mit anderen Tools maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Menschen in Deutschland „die Pandemie gemeinsam gemeistert haben“. „Für mich ist (die Corona-Warn-App) ein weiterer Beweis dafür, dass Technologie allen zugute kommt“, schrieb Müller im Netzwerk LinkedIn.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte, ein aktiver Weiterbetrieb ergebe keinen Sinn „bei der geringen Inzidenz, die wir zurzeit haben“. Außerdem gebe es eine hohe Bevölkerungsimmunität, so dass die Krankheit nicht mehr so schwer verlaufe. Der Minister appelliert aber an die User, die App nicht von ihren Smartphones zu löschen. „Es kann sehr gut sein, dass wir sie für Covid wieder nutzen müssen. Es kann aber auch sein, dass wir sie weiterentwickeln für andere Infektionskrankheiten.“

Dass eine neue Pandemie bevorsteht, ist aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch der Vorbereitung. Deshalb hat die UN-Gesundheitsbehörde in Genf eine Reihe von Krankheiten besonders im Auge, die entweder das größte Potenzial für Epidemien oder gar Pandemien haben oder für die noch keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen wurden. Darunter sind bekannte Namen wie Ebola, Zika, Covid-19 und Lassafieber, sowie die Atemwegserkrankungen MERS-CoV und SARS. Außerdem: das Krim-Kongo-Fieber und das Rifttalfieber, bei denen Blutungen auftreten können, sowie das Gehirnhautentzündung verursachende Nipah-Virus. Ganz unten auf der Liste steht der ominöse Eintrag „Krankheit X“. Damit ist eine Erkrankung gemeint, die bislang nicht im Menschen beobachtet wurde und deshalb noch nicht als Pandemie-Kandidatin bekannt ist. Laut der WHO werden 60 Prozent aller neuen Infektionskrankheiten von Tieren zu Menschen übertragen.

© dpa-infocom, dpa:230527-99-844552/3


Von dpa
north