Es hätte in einem Blutbad enden können, was aus Sicht der Staatsanwaltschaft Anfang Juni auf dem Friedhof der 6000-Seelen-Gemeinde Altbach bei Stuttgart passiert ist: Ein 23-Jähriger schleudert dort eine Handgranate in Richtung einer Trauergemeinde. Rund 50 Menschen stehen zu diesem Zeitpunkt vor der Aussegnungshalle, darin haben sie sich gerade von einem jungen Mann verabschiedet.
Dass es an diesem Tag im Frühsommer nicht viele Tote gibt, ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken. Die Granate prallt an einem Ast ab, landet 30 Meter von der Gruppe entfernt und explodiert dort. Trotzdem werden mindestens 15 Menschen teils schwer verletzt.
Seit Donnerstag muss sich deswegen der mutmaßliche Granaten-Werfer vor dem Stuttgarter Landgericht verantworten. Mit einem Urteil wird nicht vor Mitte März gerechnet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm versuchten Mord vor, der Staatsanwalt spricht von einem heimtückischen und gemeingefährlichen Angriff auf die Trauergemeinde: „Er nutzte bewusst aus, dass die Trauernden in Gedanken bei dem Verstorbenen waren.“
Dann listet er minutiös auf, was die vielen bis zu drei Millimeter großen Stahlkugeln, die die Explosion durch die Luft schleudert, auf dem Friedhof anrichten: Sie dringen in Arme, Schultern und Oberschenkel der Trauernden ein, einem Opfer reißt eine der Kugeln ein Stück des Ohrs ab, einen anderen treffen die Splitter im Hals. Eine weitere Kugel bleibt nahe der Lunge eines Opfers stecken. Mehrere Trauergäste müssen operiert werden, einige leiden bis heute unter Panikattacken und Belastungsstörungen.
Der Angeklagte äußert sich zum Prozessauftakt persönlich nicht zu der Tat, lässt aber seinen Verteidiger eine Erklärung abgeben. Die Anklage sei zutreffend, sagt sein Anwalt Stefan Holoch - und richtet dann auch gleich noch eine Entschuldigung des 23-Jährigen aus: „Er möchte sich durch mich bei sämtlichen zu Schaden Gekommenen entschuldigen.“ Sein Mandant wisse, dass er falsch gehandelt habe. „Sehr falsch.“
Auch für den mutmaßlichen Täter hat der Handgranatenwurf massive Auswirkungen. Als er nach dem Wurf mit einem Taxi flüchten möchte, ziehen ihn mehrere Trauergäste aus dem Auto und schlagen brutal auf ihn ein. Bis erste Einsatzkräfte eintreffen, springen und treten sie laut Staatsanwaltschaft auf seinen Kopf und seinen Körper, fügen dem Iraner ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu, mehrere Tage liegt er danach auf der Intensivstation. Die mutmaßlichen Schläger stehen von kommender Woche an vor Gericht.
Im Gerichtssaal äußert sich der junge Mann zwar zu seinem Lebensweg, macht aber häufig Erinnerungslücken geltend. „Ich erinnere mich an vieles nicht mehr“, sagt er. Er leide unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen - ob die eine Folge des Schädel-Hirn-Traumas sind, bleibt unklar. Dem Gericht berichtet er von weiteren Verletzungen am Kopf, vor ein paar Jahren sei er acht Meter in die Tiefe gestürzt, auch von einem Tumor spricht der junge Mann.
2006 sei er mit seiner Familie aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Sein Vater sei dort politisch verfolgt worden und vor der Todesstrafe geflohen. In Deutschland besucht der heute 23-Jährige dann Deutschkurse, macht einen Hauptschulabschluss und beginnt verschiedene Ausbildungen. Sein Asylantrag wird abgelehnt, zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Tat ist er nur noch geduldet.
Hintergrund der Tat ist nach Ansicht der Ermittler eine seit vielen Monaten tobende Fehde zweier rivalisierender Gruppen im Raum Stuttgart. Der Angeklagte gehöre einer kurdisch geprägten Gruppierung aus dem Raum Stuttgart-Zuffenhausen und Göppingen an, sagt der Staatsanwalt. „Er vermutete auf der Beerdigung zahlreiche Angehörige oder Sympathisanten der verfeindeten Gruppierung.“ Diese ist den Ermittlern zufolge vor allem rund um Esslingen aktiv.
Die Gruppen bekriegen sich seit Monaten, immer wieder kommt es im Großraum Stuttgart zu Gewalttaten. Wiederholt wurde dabei auch auf Menschen geschossen. Vorfälle gab es unter anderem in Stuttgart-Zuffenhausen, in Plochingen, in Asperg im Kreis Ludwigsburg und in Eislingen im Kreis Göppingen. Bislang gab es nach Angaben des Landeskriminalamtes mehr als 40 Verhaftungen.
Aus Sicherheitsgründen findet der Prozess im streng gesicherten Saal des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim statt, am Donnerstag stehen dutzende Einsatzfahrzeuge vor dem Gerichtsgebäude, am Einlass werden die Besucher genau kontrolliert. Es bleibt ruhig: Angehörige der verfeindeten Gruppen zeigen sich nicht.
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