Zwei Wochen vor dem geplanten Beginn des Traunsteiner Zivilprozesses um sexuellen Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising ist erstmals die Summe bekannt geworden, um die es dabei geht.
Insgesamt 350.000 Euro fordert ein Missbrauchsbetroffener vom Erzbistum und den Erben des gestorbenen Papstes Benedikt XVI. Das bestätigte der Anwalt des Mannes, Andreas Schulz, der Deutschen Presse-Agentur.
Zuvor hatten „Correctiv“, Bayerischer Rundfunk und „Die Zeit“ über die Forderung berichtet und aus einem entsprechenden Schriftsatz zitiert. 300.000 Euro verlangt der Kläger demnach vom Erzbistum, 50.000 Euro Schmerzensgeld von den Erben des an Silvester gestorbenen emeritierten Papstes. Das Gericht bezifferte den Streitwert in dem Verfahren laut einer Sprecherin mit 362.000 Euro noch etwas höher.
Der Mann gibt an, vor knapp 30 Jahren im Pfarrhaus im oberbayerischen Garching an der Alz von dem verurteilten Wiederholungstäter Priester H. missbraucht worden zu sein. „Der Kläger wurde so um sein Lebensglück gebracht, aus der Lebensbahn geworfen und suchte deswegen Zuflucht in Drogen und Alkohol mit all seinen Folgen für seinen beruflichen Lebensweg“, heißt es laut „Correctiv“, BR und „Zeit“ in Schulz' Schreiben.
Dem Kläger sollen laut der Forderung im Schriftsatz „alle materiellen und immateriellen Schäden“ ersetzt werden, die ihm „aus der Missbrauchstat im Tatzeitraum zwischen 1994 bis 1996 entstanden sind sowie in der Zukunft noch entstehen werden“.
Benedikt XVI., damals noch Kardinal Joseph Ratzinger, habe als Chef der Glaubenskongregation 1986 mit dafür gesorgt, dass der verurteilte Priester erneut in einer Gemeinde eingesetzt wurde. Dadurch sei es Priester H. erst möglich gewesen, den heutigen Kläger damals zu missbrauchen, so die Argumentation.
Ratzinger hatte 1986 einen Brief unterschrieben, in dem er jenem Skandalpriester erlaubte, die Heilige Messe mit Traubensaft statt mit Wein zu feiern. Das Erzbistum hatte zuvor um diese Sondererlaubnis gebeten und die Bitte damit begründet, dass der Priester unter Alkoholeinfluss Straftaten nach den Paragrafen 174, 176 und 184 des Strafgesetzbuches begangen habe. Die Paragrafen behandeln sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauch von Kindern und die Verbreitung pornografischer Inhalte.
Für Kritiker ist damit klar, dass Ratzinger über den Fall Bescheid wusste und nichts dagegen unternahm, dass der Priester weiter mit Kindern arbeitete. Sein langjähriger Privatsekretär Georg Gänswein sagte dagegen, die Unterschrift beweise nicht, dass Ratzinger den Brief damals auch gelesen habe.
Das Erzbistum München hatte sich in dem Traunsteiner Verfahren nicht auf Verjährung berufen und so den Weg für einen Prozess frei gemacht. „Die Erzdiözese ist bereit, zur Anerkennung des Leids des Klägers ein angemessenes Schmerzensgeld zu leisten und für darüber hinausgehende Schadensersatzbegehren eine angemessene Lösung zu finden“, hieß es.
Der Prozess soll am 20. Juni am Landgericht Traunstein beginnen. Bis dahin muss das Gericht noch entscheiden, ob das Verfahren gegen Papst Benedikt abgetrennt wird. Denn bislang ist noch immer nicht klar, wer dessen Erbe antritt und damit dann auch die Klage erbt.
Nach Angaben von Benedikts Nachlassverwalter Gänswein kommen einige Cousins und Cousinen Ratzingers als Erben infrage. Bislang hat nach Informationen von „Correctiv“ und BR eine Cousine das Erbe ausgeschlagen.
Anwalt Schulz hatte die Abtrennung des Verfahrens beantragt. Neben Ratzinger und dem Erzbistum sind auch Missbrauchstäter H. und Ratzingers Nachfolger als Erzbischof von München und Freising, Kardinal Friedrich Wetter, Beklagte in dem Verfahren.
Der Traunsteiner Prozess ist nicht der einzige aktuelle Fall, der die Kirche teuer zu stehen kommen könnte: Vor dem Landgericht Köln hat ein ehemaliger Messdiener Schmerzensgeld-Klage eingereicht, in der es um eine noch wesentlich höhere Summe ging, nämlich rund 750.000 Euro - und damit um sehr viel mehr, als die Kirche Missbrauchsbetroffenen bislang zahlt.
Zum Vergleich: Eine von der katholischen Kirche in Deutschland eingerichtete Kommission hat bisher mehr als 40 Millionen Euro an sogenannten freiwilligen Anerkennungsleistungen für von sexuellem Missbrauch Betroffene bewilligt. 2021 waren es nach Angaben der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) knapp 13 Millionen Euro, 2022 etwa 28 Millionen.
In 143 Fällen seien Summen von mehr als 50.000 Euro zuerkannt worden. In 24 Fällen sei es sogar um mehr als 100.000 Euro gegangen.
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sagte bereits im Januar, er sehe nach den Entscheidungen der beiden reichen Erzbistümer Köln und München, sich in den Fällen nicht auf Verjährung zu berufen, nun eine Klagewelle auf die Kirche zurollen: Jetzt würden „viele Opfer sexualisierter Gewalt den staatlichen Klageweg einschlagen“, sagte er. Sollte es dazu kommen, sieht er vor allem ärmere Bistümer in finanzieller Bedrängnis.
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