Tortenwurf und lautstarker Protest - die Hauptversammlung des Autobauers Volkswagen erinnerte an die besten Zeiten solcher Veranstaltungen. Straßenblockaden auf Zufahrtsstraßen, Klimaproteste vor dem Versammlungsgebäude, Störaktionen in der Halle.
Allein: Dass sich Manager Tausenden Aktionärinnen und Aktionären in Präsenz stellen, ist nicht mehr unbedingt die Regel. Auch nach Corona halten - zum Ärger vieler Anteilseigner - etliche Unternehmen in Deutschland ihre Hauptversammlung ausschließlich online ab: so an diesem Mittwoch (10.00 Uhr) die Commerzbank.
Während der Corona-Pandemie schuf der Gesetzgeber die Möglichkeit, Hauptversammlungen rein digital durchzuführen. So konnten diese Jahrestreffen auch in Zeiten von Kontaktbeschränkungen auf sicherer Rechtsgrundlage stattfinden. Als erster Dax-Konzern verlegte Ende April 2020 der Pharmariese Bayer seine Hauptversammlung komplett ins Internet. Seit Juli 2022 ist die Corona-Sonderregelung einer virtuellen Hauptversammlung per Gesetz eine Dauereinrichtung.
Für künftige Aktionärstreffen in diesem Format ist eine Änderung der Satzung der jeweiligen Aktiengesellschaft erforderlich. Heißt: Das Management muss sich von seinen Anteilseignern genehmigen lassen, über 2023 hinaus Hauptversammlungen ohne physische Präsenz von Aktionären abhalten zu dürfen. Sichergestellt sein muss, dass eine solche Hauptversammlung komplett in Bild und Ton übertragen wird. Im Gegensatz zum Pandemie-Provisorium stärkt das im vergangenen Jahr beschlossene Gesetz zudem die Aktionärsrechte: etwa durch die Möglichkeit, ohne Voranmeldung zu reden.
Im Gegenteil. Im digitalen Format bleibe der Aktionär „Zaungast“, kritisiert Markus Kienle von der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), die Hauptversammlung werde zum „Vorstandsfernsehen“. Fondsmanagerin Alexandra Annecke von Union Investment forderte von der Deutschen Bank mindestens eine Mischung aus Präsenz und Online: „Sie sollten wenigstens einmal im Jahr den Aktionären persönlich und öffentlich Rede und Antwort stehen, sich direkter Kritik stellen und die Stimmung in der Halle spüren.“
Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) äußerte sich immer wieder kritisch: „Wir sind nicht grundsätzlich gegen die virtuelle Hauptversammlung - in klar begründeten Ausnahmesituationen“, bekräftigte DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler im März. „Eine perfekte technische Umsetzung ist allerdings eine zwingende Grundvoraussetzung.“
Die Chefin des Deutschen Aktieninstitut, Christine Bortenlänger, meint, angesichts einer immer digitaler werdenden Welt sei „die Einführung einer virtuellen Hauptversammlung nur konsequent“: „Eingeschränkte Einflussmöglichkeiten kann ich nicht erkennen.“
Die Hauptversammlung - kurz HV - ist neben Vorstand und Aufsichtsrat das wichtigste Entscheidungsgremium einer Aktiengesellschaft. Einmal im Jahr haben Aktionäre die Gelegenheit, der Führung ihres Unternehmens persönlich die Meinung zu sagen. Zudem trifft die Hauptversammlung wichtige Entscheidungen: Die Anteilseigner stimmen unter anderem über die Ausschüttung der Dividende, mögliche Kapitalerhöhungen oder Wahlen zum Aufsichtsrat ab.
Das Bundesjustizministerium argumentierte im Gesetzgebungsverfahren im Juli 2022 unter anderem, die Möglichkeit, Fragen bereits im Vorfeld einzusammeln, habe „zu einer Erhöhung der Qualität bei der Beantwortung von Aktionärsfragen beigetragen“. Zudem sehen es Befürworter als Vorteil, dass per Zuschaltung Aktionäre teilnehmen können, die zu einer Präsenzveranstaltung nicht anreisen würden.
„Ein klarer Vorteil des virtuellen Formats ist, dass Aktionäre leichter teilnehmen und ihre Rechte leichter ausüben können. Das ist insbesondere für junge und berufstätige Menschen attraktiv“, sagt Aktieninstituts-Chefin Bortenlänger. Die Deutsche Börse verzeichnete bei ihrer virtuellen Hauptversammlung 2023 mit fast 79 Prozent des stimmberechtigten Kapitals einen Rekordwert in ihrer Geschichte.
Ein weiteres Argument aus Sicht der Unternehmen: geringere Kosten. Man könne „letztlich im virtuellen Format von einer Kostenersparnis von rund 40 Prozent ausgehen“, sagte Deutsche-Bank-Vorstand Stefan Simon bei der diesjährigen Online-Hauptversammlung des größten deutschen Geldhauses. Die Kosten für die diesjährige Veranstaltung beliefen sich Simons Angaben zufolge auf „ungefähr drei Millionen Euro“, die Online-Hauptversammlung 2022 habe die Deutsche Bank 2,83 Millionen Euro gekostet, bei der letzten Präsenz-Hauptversammlung des Dax-Konzerns im Jahr 2019 seien es 4,6 Millionen Euro gewesen.
Die Aktionärsvereinigung DSW kommt in einer vorläufigen Auswertung auf Basis der bereits bekannten HV-Termine auf folgende Zahlen: Von den 40 Konzernen im Deutschen Aktienindex wählten in der laufenden HV-Saison 28 das virtuelle Format, 12 luden ihre Aktionärinnen und Aktionäre zu einem Präsenztermin ein. Im MDax war die Verteilung fast 50:50 (20 virtuell, 24 in Präsenz). Im SDax zählt die DSW bis dato 25 virtuelle Hauptversammlungen und 39 in Präsenz.
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