Schreyer forderte Spitzengespräch zu Stammstrecken-Debakel | FLZ.de

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Veröffentlicht am 06.06.2023 02:48

Schreyer forderte Spitzengespräch zu Stammstrecken-Debakel

Kerstin Schreyer (CSU), ehemalige bayerische Ministerin für Wohnen, Bau und Verkehr, spricht. (Foto: Sven Hoppe/dpa)
Kerstin Schreyer (CSU), ehemalige bayerische Ministerin für Wohnen, Bau und Verkehr, spricht. (Foto: Sven Hoppe/dpa)
Kerstin Schreyer (CSU), ehemalige bayerische Ministerin für Wohnen, Bau und Verkehr, spricht. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Bayerns Ex-Verkehrsministerin Kerstin Schreyer (CSU) hat nach eigenen Worten schon früh und auch hartnäckig - aber vergeblich - ein Spitzengespräch zum Debakel bei der zweiten Münchner S-Bahn-Stammstrecke gefordert. Sie habe immer wieder um einen runden Tisch mit Staatsregierung, Stadt, Bund und Bahn gebeten, auf Einladung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU), sagte Schreyer am Dienstag vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags. Sie und ihr Ministerium hätten bei der Staatskanzlei „auf allen Ebenen nachgefragt“. „Es hieß immer: Kommt noch.“ Sie habe bis zum Ende ihrer Amtszeit im Februar 2022 geglaubt, dass der runde Tisch komme. „Warnsignale“ zu dem Projekt habe sie immer wieder aufgestellt.

Die Opposition wirft der Staatsregierung vor, zu spät etwas gegen das drohende Debakel bei dem Milliardenprojekt unternommen und Landtag sowie Öffentlichkeit viel zu spät über die massiven Verzögerungen und Kostensteigerungen informiert zu haben. Eine Mutmaßung: Söder habe das Thema bewusst aus dem Bundestagswahlkampf 2021 heraushalten wollen, auch um etwaige eigene Kanzler-Ambitionen nicht zu gefährden.

Genährt wurden die Vorwürfe von einem Aktenvermerk eines Mitarbeiters der Staatskanzlei vom 23. Dezember 2020, in dem es heißt, die „derzeitige politische Linie“ sehe eine „dilatorische Behandlung“ bis nach der Bundestagswahl vor. „Dilatorisch“ bedeutet „aufschiebend“ oder „verzögernd“. Zudem heißt es in dem Vermerk, die Probleme bei der zweiten Stammstrecke seien „kein Gewinnerthema im Wahlkampf“.

Schreyer berichtete, nach ihrem Amtsantritt als Verkehrsministerin im Februar 2020 sei seitens der Bahn - auch von Bahn-Vorstand Ronald Pofalla persönlich - zunächst immer noch lange vermittelt worden, dass alles im Zeit- und Kostenplan sei. Erst in einem Gespräch auf Fachebene am 25. September 2020 sei dann plötzlich von einer Kostensteigerung von 3,8 auf 5,2 Milliarden Euro und einer deutlich späteren Inbetriebnahme die Rede gewesen, im Jahr 2033 statt 2028. Pofalla aber habe diese Zahlen in einem Schreiben wenig später wieder für „gegenstandslos“ erklärt. „Damit hatte ich keine Zahlen mehr.“ Gleichwohl habe sie die Zahlen ernst genommen, betonte Schreyer.

Zwischenzeitlich hatte Schreyer auch die Staatskanzlei informiert und musste im Kabinett berichten. Sie habe dort gesagt, dass es einen runden Tisch brauche. „Nicht nur einmal“ habe sie ein Spitzengespräch gefordert, betonte sie, auch mit Pofalla und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). Söder habe gesagt: „Ja, das machen wir.“ Zeitvorgaben für ein Gespräch habe es allerdings nicht gegeben.

Tatsächlich passierte zwei Jahre lang wenig bis nichts. Die Verantwortlichen erklärten das bislang damit, dass sie erst die Vorlage valider neuer Fakten durch die Bahn abwarten wollten. Diese Zahlen kamen erst Ende September 2022 auf den Tisch - und lösten ein Beben aus. Denn statt 3,85 Milliarden Euro sollte das Mammutprojekt nun rund 7 Milliarden Euro plus Teuerung kosten - an Gesamtkosten werden aktuell rund 8,5 Milliarden Euro erwartet. Die Fertigstellung wird sich voraussichtlich vom Jahr 2028 bis ins Jahr 2037 verzögern.

Schreyer machte der Deutschen Bahn schwere Vorwürfe. Die Bahn habe, obwohl sie „maximalen Druck“ gemacht habe, lange beständig „gemauert“ und lange keine Zahlen zu dem Milliardenprojekt geliefert. Man sei „gegen eine Wand“ gelaufen. Zwingen habe man die Bahn aber nicht können. „Die Deutsche Bahn heißt Deutsche Bahn und nicht Bayerische Bahn“, sagte die CSU-Politikerin. „Ich kann nicht in eine Deutsche Bahn hineinregieren als bayerische Verkehrsministerin.“ Den Umgang Pofallas mit ihr persönlich nannte sie, diplomatisch formuliert, „mittelprächtig“. „Es war schon so ein von oben nach unten.“

Schreyer sagte außerdem, offenbar hätten bei der Bahn nicht alle den Wunsch gehabt, bei dem Projekt zu einer schnellstmöglichen Lösung zu kommen. „Es wurde offensichtlich gegengeschoben.“ Dabei gebe es doch den Satz: „Wenn man etwas löst, passen viele Menschen auf ein Foto.“

Schreyer rechtfertigte aber, dass man mit den Zahlen der Bahn aus dem September 2020 nicht an den Landtag herangetreten sei. „Den Landtag konnten wir nicht informieren, weil wir keine validen Zahlen hatten.“ Mit „Mutmaßungen“ und „Diskussionsgrundlagen“ - so hatte Pofalla die Zahlen anschließend bezeichnet - „da hätten Sie mich zerrissen“.

Von ihrem Parteikollegen Scheuer hätte Schreyer nach eigenen Worten mehr erwartet - etwa dass dieser als Bundesminister früher noch einmal mit Pofalla redet und verlässliche Zahlen einfordert. Scheuer habe sie aber lediglich an die Bahn verwiesen, sagte Schreyer. Sie bekräftigte auf Nachfrage mehrfach, dass es damals ein Telefonat von ihr mit und ein anschließendes Schreiben an Scheuer gegeben habe.

Scheuer hatte dazu vor dem Ausschuss gesagt, der Brief, in dem die jahrelange Verzögerung und eine drohende Kostenexplosion thematisiert wurden, habe zwar das Ministerium erreicht, aber nicht ihn persönlich. An das Telefonat, auf das Schreyer in dem Schreiben Bezug nimmt, könne er sich ebenfalls nicht erinnern, sagte Scheuer weiter.

Die Landtags-Grünen stellten nach eigenen Angaben am Dienstag Strafanzeige gegen Scheuer - wegen des Verdachts auf uneidliche Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss. Es müsse geklärt werden, ob Scheuer das bayerische Parlament belogen habe, hieß es. Scheuer wollte die Anzeige auf Nachfrage nicht kommentieren.

© dpa-infocom, dpa:230605-99-949856/5


Von dpa
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