Seit Jahren schaut die PS-Welt vor allem nach China. Doch wer eines der vielleicht spannendsten neuen Autos entdecken will, der muss den Blick gar nicht so weit schweifen lassen. Denn unter all die Newcomer mischt sich nun auch ein Debütant aus deutlich kürzerer Distanz: In der Provinz Bursa im asiatischen Teil der Türkei hat Togg mit der Produktion des T10X begonnen und will diesen elektrischen Geländewagen ab dem Herbst auch in Deutschland anbieten. Damit meldet sich die Türkei über 30 Jahre nach Anadol als Autonation zurück.
Preise für Deutschland hat Togg noch nicht genannt. Doch in der Heimat startet das SUV im Format des VW ID.4 bei 1,4 Millionen Lira oder umgerechnet aktuell gut 40.000 Euro. Damit kostet der 4,60 Meter lange Fünfsitzer zwar anderthalbmal so viel wie der Fiat Aegea, der dort die Zulassungsstatistik anführt, ist aber trotzdem ein Bestseller: Als erstes türkisches Auto der Neuzeit sozusagen, waren die 20.000 Exemplare der ersten Jahresproduktion 2023 jedenfalls in 18 Stunden verkauft. Und weil die Nachfrage so schnell kaum nachlassen dürfte, wird es für Deutschland von den rund 45.000 Exemplaren dieses Jahres auch nur einen Bruchteil geben.
Anders als viele neue Modelle vor allem aus China setzt Togg auf eine vergleichsweise klassische Form. Die stammt aus der Feder des ehemaligen VW-Chefdesigners Murat Günak. Doch dürfen der konventionelle Grill und die gewöhnlichen Proportionen des T10X nicht über die wegweisende Technik hinwegtäuschen.
Nicht umsonst steht der Wagen auf einer selbst entwickelten Skateboard-Plattform, die für ein großes Raumangebot sorgt und mit zukunftsfester Hardware bestückt ist. Die Batterien baut Togg selbst mit wahlweise 52,4 oder 88,5 kWh für bis zu 523 Kilometer Reichweite.
Dazu kommt eine Ladeleistung, die mit 22 KW am Wechsel- und mit 180 kW am Gleichstrom manch europäischen Konkurrenten ziemlich alt aussehen lässt. Erst recht, weil Togg ähnlich wie Tesla gleich auch noch sein eigenes Ladenetz aufbaut und für die Türkei bereits 1000 Hyper-Charger bestellt hat.
Nur die Motoren kauft Togg bei Bosch ein. Sie haben immer 160 kW/218 PS und 350 Nm und werden einzeln an der Hinterachse oder im Doppelpack montiert, sodass der T10X auch allradgetrieben fahren kann. Im besten Fall stehen dann 320 kW/435 PS und 700 Nm im Datenblatt, die Beschleunigung aus dem Stand auf Tempo 100 gelingt in 4,8 Sekunden und erst bei 185 km/h endet der Vortrieb.
Dazu gibt es alle üblichen Assistenz- und Sicherheitssysteme, die allerdings lange nicht so nervös und deshalb nervig ausgelegt sind wie bei vielen Modellen aus dem ferneren Osten. Vor allem aber gibt es ein Infotainment, das europäischen Modellen bis hinauf in die Luxusklasse die Show stiehlt.
Dafür hat Togg einen Bildschirm im Cockpit installiert, der tatsächlich über die volle Breite reicht und zahlreiche völlig neue Funktionen ermöglicht. Das beginnt bei der Kamera, die mit Gesichtserkennung den Schlüssel ersetzt und natürlich auch Selfies schießen kann. Es führt über digitale Kunst im Breitbandformat. Und es gipfelt in einem sogenannten KI-Radio.
Denn statt einfach nur Musik aus dem Internet zu streamen und dafür hohe Gebühren zu zahlen, kann man den Togg aus 2000 Instrumentaltiteln in unterschiedlichen Genres seinen ganz eigenen Soundtrack komponieren lassen – individuell, einzigartig und nur für den Augenblick gemacht.
Der Neue aus der Türkei kommt damit aus dem Stand auf Augenhöhe mit anderen Anbietern. Er leistet sich beim Fahrverhalten keine Patzer, in der Materialauswahl bietet er teilweise sogar Oberklasse-Niveau. Trotzdem, der Hersteller weiß, dass die Welt nicht auf ein weiteres Elektro-SUV gewartet hat. Deshalb definiert Togg seine Modelle auch nicht nur als Autos, sondern als Smart Devices, bei denen Fahren fast schon zur Nebensache wird.
Man kann sagen: Sie bringen nicht das Internet ins Auto, sondern das Auto ins Internet und schnüren drumherum ein digitales Ökosystem mit eigener Währung und potenten Partnern. In der Türkei ist da zum Beispiel die nationale Fluglinie integriert, große Energieversorger und sogar das Finanzamt, sodass man aus dem Auto heraus mit Geld oder Bonuspunkten Flüge buchen, die Batterie laden oder seine Steuern bezahlen kann. Damit diese Idee auch in Deutschland fruchtet, sucht Togg gerade lokale Partner und schnürt ein vergleichbares Paket.
Elegant, geräumig, ausgreift und auf Augenhöhe mit VW ID.4 & Co: Schon mit dem Auto selbst hat Togg einen großen Wurf gelandet, mit dem der Newcomer bei Millionen Menschen auch außerhalb der Türkei punkten könnte. Wenn der Autobauer es schafft, auch die Idee vom digitalen Ökosystem zu exportieren, dann sehen selbst Tesla & Co alt aus. Von den Chinesen ganz zu schweigen.
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