Schon von weitem sind die Hammerschläge zu hören: Tock, tock, tock. Ein paar Dutzend junge Schatzsucher sind an diesem Morgen im Steinbruch hoch über Lindlar unterwegs.
Goldgräberstimmung am Brungerst, so sagen sie hier manchmal. Und meinen nicht die Suche nach Edelmetall, sondern nach versteinerten Pflanzen aus der Urzeit: etwa 390 Millionen Jahre alt, aus einer Zeit, als es noch nicht mal Dinos gab.
Damals lag die Gegend am Rand eines tropischen Meeres. Auf einer Sandinsel wuchsen Pflanzen, zwei bis drei Meter hoch, und bildeten eine Art Wald. Ein Tsunami soll das Grün ins Meer gespült haben - so rekonstruieren Geologen das Geschehen.
Aus dem Gemisch von Sand und Schlamm entstand die Lindlarer Grauwacke. In diesen Steinen sind die urzeitlichen Pflanzen bis heute konserviert - Seelilien zum Beispiel. Und genau solche Fossilien hoffen die hämmernden Schatzsucher zu finden.
„Im Steinbruch machen wir eine Zeitreise in die Vergangenheit“, sagt Stefan Blumberg. Er ist Anfang 70 und hat 30 Jahre im Tagebau der Bergische Grauwacke Steinbruchbetriebsgesellschaft gearbeitet. Heute führt Blumberg Besucher durchs Unternehmensgelände und erzählt von der Geschichte der Grauwacke, von den Steinhauern und seinem Heimatort Lindlar.
Im 17. Jahrhundert wurde erstmals Grauwacke gewonnen. „Das ist jedenfalls offiziell beurkundet“, so Blumberg. Vermutlich begann der Abbau der grün-grauen bis rötlichen Sandsteine aber viel früher. Der trutzige Turm der Lindlarer St.-Severin-Kirche stammt aus dem Jahr 1156 - und enthält bereits Grauwacke.
Das Gestein gilt als haltbarer und gut zu verarbeitender Baustoff: zeitlos, robust und frostsicher.
In Lindlar existieren heute noch drei Steinbruchbetriebe mit insgesamt rund 200 Beschäftigten. Bis zur Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts war die Steingewinnung reine Familiensache.
In kleinen Kuhlen wurden die kostbaren Steine dem Berg in Handarbeit entrissen, dann aufgespalten, geschliffen und poliert. Von Generation zu Generation wurden die Kuhlen vererbt, erzählt Blumberg. Ein wenig fühlt man sich an die schicksalhafte Geschichte der Goldsucher in Nordamerika erinnert.
Am Brungerst, dieser Erhebung, an der die Abbaufelder liegen, war die Gewinnung der Grauwacke harte und gefährliche Arbeit, ein Knochenjob. Blumberg weiß, wovon er redet: Seine eigene Familiengeschichte lässt sich bis ins Jahr 1610 zurückverfolgen.
Meist wurden sie nicht alt, die Steinhauer von Lindlar. Steinstaub setzte sich in ihren Lungen fest, manche quälten sich über Jahre mit Atemnot, einige wurden schon mit Mitte 30 dahingerafft. Witwen blieben mit kleinen Kindern zurück und litten bittere Not.
Daher bildeten die Steinhauer bereits im Jahr 1706 die Sankt Reinoldus-Steinhauergilde, die für Notleidende einstand - ein früher Vorläufer von Gewerkschaften und Hinterbliebenenkassen.
Die Besucher haben inzwischen die Verarbeitungshallen gesehen, wo computergesteuerte, riesige Sägen die Blöcke passgenau zerteilen und rotierende Bürsten die zugeschnittenen Platten blitzblank polieren. „Ganz individuell, so wie bestellt“, sagt Blumberg.
Ob Türschilder oder Gartenbrunnen, Straßenpflaster in Altstädten, Badwände in Flughafen-Lounges in Hamburg oder München, Schotter für ICE-Bahntrassen oder Grabkreuze auf Soldatenfriedhöfen - die Steine aus Lindlar kommen weit herum, wie der Guide erzählt.
Eine kleine Anhöhe später und man blickt in einen riesigen Steinbruch. 80 Meter und noch höher ragen die Felswände nahezu senkrecht in den Himmel. Terrassenartig wird das Gestein abgebaut. Bagger brechen Brocken für Brocken aus dem Berg. Polternd krachen die tonnenschweren Steine in den Muldenkipper mit seinen übermannshohen Rädern. Schlamm spritzt auf, als der Kipperfahrer den Laster mit leichter Hand zur Brecheranlage lenkt.
„Sehen Sie ganz oben die kleine Aussichtskanzel“, sagt Blumberg und deutet auf den Vorsprung über der Felswand hin. Von dort gebe es den besten Blick in den Tagebau hinein.
Die Kanzel ist ein Highlight des Steinhauerpfades. Der gut sechs Kilometer lange Rundweg führt vom Lindlarer Ortszentrum hinauf zu den Steinbrüchen am Brungerst. Infotafeln mit historischen Fotografien berichten zur Geschichte der Grauwacke.
Links und rechts des schmalen Pfades, versteckt zwischen Bäumen, sind die kleinen Abbaukuhlen aus längst vergangenen Zeiten zu entdecken. Der Weg lohnt sich, bei klarer Witterung reicht die Sicht bis zum Siebengebirge und dem Kölner Colonius-Fernsehturm.
Für die Schatzsucher unter den Teilnehmern beginnt nun der spannendste Teil des Rundgangs: Fossilien entdecken. Hammer und Meißel in den Händen, Schutzbrille über den Augen, Helm auf dem Kopf und Warnweste am Körper. Tock, tock, tock!
Es wird gehämmert und geklopft. Und tatsächlich: Hin und wieder geben die Steine Spuren der Urpflanzen frei. Aus einer Zeit, die so unvorstellbar lange zurückliegt.
Zum Abschluss geht der Blick aber nicht zurück, sondern nach vorn. Wie viele Jahre wird in Lindlar noch Grauwacke abgebaut? Das wollen Blumbergs Gäste am Ende der Steinbruch-Führung wissen. „Für 500 Jahre liegen dort noch Steine“, sagt er. Und fügt mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: Seine Betriebsrente sei damit wohl gesichert.
Lindlar mit seinen rund 22.000 Einwohnern liegt etwa 30 Kilometer östlich von Köln im Bergischen Land. Der Name Bergisches Land bezeichnet jedoch nicht die Mittelgebirgslandschaft; er stammt von den Grafen von Berg, die dort im Mittelalter regierten.
Mit der Bahn bis Köln oder Engelskirchen, von dort mit dem Bus bis Lindlar (Linie 421/40 bzw. Linien 331 und 332). Mit dem Auto über die Autobahn A4 via Köln bis Ausfahrt Untereschbach, von dort der Beschilderung bis Lindlar folgen.
Der 6,2 Kilometer lange Steinhauerpfad erinnert an den bergmännischen Abbau der Grauwacke-Steine in Lindlar und ist einer der 25 „Bergischen Streifzüge“. Diese Rundwanderwege wurden ab 2012 geschaffen. Diese Themenrouten sind zwischen vier und 16 Kilometer lang und sollen auch Neulingen Lust aufs Wandern machen.
Besucher können zwischen März und Oktober bei Führungen mit Fossiliensuche einen Steinbruch kennenlernen. Die Teilnehmerzahl ist auf 15 Personen begrenzt. Eine Führung (täglich, außer sonntags) geht etwa zwei Stunden, der Gruppenpreis beträgt pauschal 60 Euro. Festes Schuhwerk ist unbedingt erforderlich. Anmeldungen sind über Lindlar Touristik möglich.
Lindlar Touristik, Eichenhofstr. 4, 51789 Lindlar, (Tel.: +49/2266/96-407 oder -425; Mail: lindlartouristik@lindlar.de; Web: www.lindlar-touristik.de)
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