Radar, Funk, Steuerknüppel: Der Arbeitsplatz von Kapitän Joachim Lauwers sieht fast aus wie auf einem richtigen Frachtschiff. Bloß dass Lauwers in einem Büro in Duisburg sitzt - und sein Schiff mehr als 150 Kilometer entfernt durch einen Kanal in Belgien tuckert. Mehr als zehn Bildschirme und eine Mobilfunkverbindung machen die Fernsteuerung möglich.
Künftig dürfen Lauwers und seine Kollegen auch Schiffe auf dem Rhein von Rotterdam quer durch Nordrhein-Westfalen bis nach Bonn steuern. Am Mittwoch hat der belgische Technologie- und Serviceanbieters Seafar dafür eine Fernsteuer-Leitzentrale am Duisburger Hafen in Betrieb genommen. Das Projekt soll gegen den Nachwuchsmangel in der Branche helfen, indem es Kapitänen mit dem Job an Land eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht.
Der Rhein macht in Deutschland den Anfang. Drei Schiffe der Reederei Deymann und der kommunalen Häfen und Güterverkehr Köln AG (HGK) dürfen dort zunächst ferngesteuert fahren. Aber auch auf Streckenabschnitten im nordwestdeutschen Kanalgebiet und auf dem Mittellandkanal will Seafar demnächst Frachter aus der Ferne steuern. Aus Sicherheitsgründen bleibt erst einmal noch eine reguläre Mannschaft an Bord. In Belgien hat Seafar sein System seit Jahren im Einsatz. Dort würden bislang mehr als 30 Schiffe per Fernsteuerung betrieben - teilweise völlig ohne Besatzung, sagt ein Sprecher.
Die Branche in Deutschland betrachtet das Projekt mit Interesse. Der Fachkräftemangel sei so gravierend, dass Schiffe teilweise ungewollte Stopps einlegen müssten - etwa wenn die Mannschaft Ruhezeiten einhalten müsse und es nicht genügend Personal für eine zweite Mannschaft gebe, sagt Jens Schwanen, Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Binnenschifffahrt.
Vor allem bei jungen Menschen hat die Binnenschifffahrt ein Image-Problem. Für die auf eine gute Work-Life-Balance bedachte Generation Z wirken die Arbeitsbedingungen an Bord nicht gerade attraktiv. Der typische Rhythmus vieler angestellter Binnenschiffer ist: 14 Tage an Bord mit langen Arbeitstagen, dann 14 Tage frei an Land. „Das möchten junge Leute oft nicht mitmachen. Die wollen eine geregelte Arbeit haben, möchten abends bei der Familie und bei Freunden sein“, sagt Rupert Henn, der im Duisburger Forschungsinstitut DST unter anderem den Bereich für automatisiert fahrende Binnenschiffe leitet.
Da könne es den Job deutlich attraktiver machen, wenn ein Kapitän nach acht Stunden in der Fernsteuerzentrale das Ruder an den Kollegen übergeben und nach Hause gehen kann. Darauf hoffen auch die an dem Seafar-Projekt beteiligten Reedereien. „Der Fachkräftemangel ist mit unseren bisherigen Mitteln nicht mehr zu bewerkstelligen“, ist Reederei-Geschäftsführer Martin Deymann überzeugt.
Dass die Fernsteuerung von Schiffen die ganze Branche umkrempeln könnte, glaubt Verbandsgeschäftsführer Schwanen aber nicht. 80 Prozent der Güterschiffe in Deutschland gehörten sogenannten Partikulieren - also Einzelunternehmern, die an Bord ihres eigenen Schiffes leben und es selbst steuern. „Ich habe noch keinen Partikulier getroffen, der es für eine tolle Idee hält, sein Schiff von einem Dritten fernsteuernd durch die Landschaft fahren zu lassen“, sagt Schwanen.
Der Fokus der Forschung geht ohnehin schon ein paar Schritte weiter. Perspektivisch sollen Schiffe immer autonomer werden. Das beginnt mit einem Autopiloten, der ein Schiff über eine vorgegebene Fahrspur steuert, und geht über Kollisionswarnsysteme bis hin zu komplett autonom fahrenden Schiffen.
In Kanälen, in denen es keine Strömung und konstante Wassertiefen gebe, funktioniere das schon ganz gut, sagt Henn. Aber der für die Logistik besonders wichtige Rhein mit seinen Strömungen und wechselnden Wasserverhältnissen stellt ganz andere Anforderungen.
Trotzdem könnte es bei autonomen Schiffen sogar schnellere Fortschritte geben als etwa bei autonomen Autos. „Im Straßenverkehr muss das System in Millisekunden reagieren, in der Binnenschifffahrt haben wir immerhin einige Sekunden Zeit“, sagt der Wissenschaftler. Außerdem gebe es auf einem Fluss nicht so viele unvorhersehbare Ereignisse wie etwa in einer stark belebten Innenstadt.
Viel wäre schon gewonnen, wenn ein Kapitän nur in besonders schwierigen Situationen etwa in einer Schleuse selbst steuern müsste - und danach wieder an den Computer übergeben könne. So wäre es möglich, dass das Schiff rund um die Uhr fährt, selbst wenn der Kapitän seine vorgeschriebenen Ruhezeiten einhalten muss und es keine zweite Mannschaft gibt.
Weil das aber noch Zukunftsmusik bleibt, ist die Fernsteuerung seiner Schiffe für Reeder Deymann schon ein Meilenstein. Nur eines vermisst der gelernte Binnenschiffer in der Fernsteuer-Zentrale: „Man hört den Wind nicht ums Steuerhaus pfeifen, man spürt die Vibration nicht“, sagt er. „Es ist nicht das Gefühl wie an Bord.“
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