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Veröffentlicht am 24.03.2023 10:05

Adieu Analoguhr? Wie Zeigeruhren weniger werden

Die Rathausuhr über dem Haupteingang  der Stadtverwaltung in Rostock. (Foto: Jens Büttner/dpa)
Die Rathausuhr über dem Haupteingang der Stadtverwaltung in Rostock. (Foto: Jens Büttner/dpa)
Die Rathausuhr über dem Haupteingang der Stadtverwaltung in Rostock. (Foto: Jens Büttner/dpa)

Abschied von der Analoguhr? Telefonzellen sind Vergangenheit, viele Litfaßsäulen wurden abgebaut. Verschwinden nun auch die guten alten Zeigeruhren aus dem Stadtbild und unserem Leben? Manche haben den Eindruck, dass öffentliche Uhren weniger werden, die Zeit sozusagen privatisiert wird. Warum auch große Zeigeruhren, wenn alle ein Handy mit exakten Digitaluhren bei sich haben? Doch stimmt der Eindruck überhaupt? Was sagen Zeitforscher und Firmen, die mit Uhren zu tun haben? Es scheint an der Zeit, eine Zeitgeist-Geschichte über Uhren - und die Zeit an sich - zu zeitigen.

„Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?“: Das von Fred Strittmatter komponierte Lied zur Zeichentrickserie über Paulchen Panther, die vor 50 Jahren ins deutsche Fernsehen kam, verstehen heutige Kinder oft kaum. An einer Uhr drehen? Wieso drehen? Das Zifferblatt ist im Computerzeitalter den Kleinen oft fremd.

Gibt es eine „Uhrendämmerung“?

Anders als es das Fernsehen früher tat, arbeiten auch TV-Nachrichten wie die „Tagesschau“ inzwischen längst mit einer digitalen Uhrzeitanzeige. Die „heute“-Sendung des ZDF führte dies vergleichsweise spät ein - erst im Sommer 2021.

„Den Eindruck, dass es im öffentlichen Raum weniger Zeigeruhren als früher gibt, haben viele“, sagt der Stadtforscher Dietrich Henckel, Vorstandsvorsitzender des Vereins Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik. Der 2022 gestorbene Zeitforscher Karlheinz Geißler habe in seinem Buch „Die Uhr kann gehen“ sogar eine „Uhrendämmerung“ diagnostiziert, sagt Henckel. „Die alltägliche Beobachtung über weniger Uhren scheint auch dadurch Bestätigung zu finden, dass weniger Leute klassische Armbanduhren tragen“, sagt der emeritierte Professor der Technischen Universität (TU) Berlin.

Andererseits ist der Trend zu teuren Armbanduhren als Statussymbol in gewissen Kreisen ungebrochen. In Rap-Songs kommen Luxusuhren oft vor. Was reimt sich gut auf Rolex? Ganz klar: das kleine Wort Sex.

Es überlagerten sich heutzutage sehr unterschiedliche Entwicklungen, sagt Henckel. „Einerseits versuchen immer mehr Personen, sich nicht übermäßig vom Taktschlag der Uhren ihr Verhalten vorgeben zu lassen und eher auf eigene Rhythmen Rücksicht zu nehmen. Andererseits ist die Uhrzeit und ihr normativer Druck allgegenwärtig.“

Die Frage laute, so Henckel: „Wozu braucht es noch öffentliche Uhren, wenn jedes Handy, der Schrittzähler am Handgelenk und fast jeder öffentliche oder private Bildschirm dauernd die Uhrzeit anzeigt?“

Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass 2021 bundesweit rund 385 200 Uhren im Wert von 287 Millionen Euro produziert worden sind. Das seien 16,3 Prozent weniger als zehn Jahre zuvor. Darunter fallen Armbanduhren, Wanduhren, Kuckucksuhren oder der Wecker – mit Zeiger oder mit digitaler Anzeige. Die Statistiker bemerkten zudem, dass zwischen 2011 und 2021 mehr Wanduhren hergestellt worden seien.

Uhren sind Fixpunkte im Stadtbild

Das große Außenwerbungsunternehmen Ströer betreibt nach eigenen Angaben noch viele Uhren. Die Fluktuation bewege sich im Promillebereich. Demnach haben Uhren also nach wie vor ihren festen Platz in der Öffentlichkeit. „Mehrere tausend öffentliche Uhren sind Fixpunkte im Stadtbild und garantieren durch ihre Platzierung in den Innenstädten eine aufmerksamkeitsstarke Funktion“, sagt ein Unternehmenssprecher. „Die Uhren bieten trotz Smartphones Passanten, Reisenden und Berufspendlern eine verlässliche Orientierung und haben häufig auch einen hohen emotionalen Stellenwert.“

Auch bei der Deutschen Bahn betont man, nach wie vor sehr viele Uhren zu unterhalten. „Etwa 17 000 betreibt die DB als Service für ihre Kundinnen und Kunden in den Bahnhöfen“, sagt eine Sprecherin. „Zu diesen Bahnhofsuhren gehören einseitig sichtbare, doppelseitig sichtbare, historische und moderne.“

Auch bei der Bahn gibt es einen Vormarsch digitaler Uhrzeitanzeigen. „An mehr als 4400 vor allem kleineren Bahnhöfen sind 7500 Dynamische Schriftanzeiger (DSA) installiert, die über die nächste Fahrt oder Fahrplanabweichungen informieren.“ Ihre Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen. „2013 war der DSA-Rollout in vollem Gange. Damals waren rund 20 Prozent weniger Uhren im Bestand.“

Stadt- und Zeitforscher Henckel sagt, die gemeinsame Ordnung unserer komplexen Gesellschaft sei nur mit einem hohen Maß an Pünktlichkeit und eben einer genauen Abstimmung von Uhrzeiten zu bewältigen. Man denke etwa an den Computer-Börsenhandel mit äußerst exakter Uhrzeit-Koordination, aber auch an den Zugverkehr und den Ärger, wenn die Deutsche Bahn unpünktlich sei und alles aus dem Takt gerate.

Widersprüchliches erlebten viele im Alltag bei den boomenden Lieferdiensten, räsoniert Henckel. „Versprochen werden pünktliche Lieferungen. Wenn das gelingt, ist es häufig mit dem Parken der Lieferfahrzeuge in zweiter Reihe verbunden, was die Zeitplanung völlig Unbeteiligter erheblich durcheinanderbringen kann. Oder die Sendungsverfolgung suggeriert, man könne die Lieferzeit abschätzen, um dann festzustellen, dass sie stundenweise angepasst wird.“

© dpa-infocom, dpa:230324-99-71089/3


Von dpa
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