Kurz vor 11 Uhr wird es still an der Gedenkstätte. Die Angehörigen und Opfer des Zugunglücks von Eschede stehen zusammen vor der Wand mit den Namen der 101 Todesopfer. Einige Angehörige liegen sich in den Armen und spenden sich gegenseitig Trost. Andere weinen für sich abseits des Trubels in dem für die Gedenkstätte angelegten Kirschgarten.
Am Vormittag des 3. Juni 1998 prallte an diesem Ort der Intercity-Express 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ mit 200 Stundenkilometern auf dem Weg von München nach Hamburg gegen eine Betonbrücke. Ursache des Unglücks im niedersächsischen Ort Eschede war ein gebrochener Radreifen, der sich an einer Weiche vor der Brücke verhakte. Bei dem bislang schwersten Bahnunglück in der bundesdeutschen Geschichte kamen 101 Menschen ums Leben, 105 Reisende wurden verletzt - viele schwer. 55 Todesopfer kamen aus Bayern, wo gerade die Pfingstferien begonnen hatten.
Die Deutsche Bahn bat erst 15 Jahre nach dem Unglück bei den Opfern und Hinterbliebenen um Entschuldigung. Der Schmerz sitzt noch immer tief bei ihnen. Dennoch sei eine gewisse Beruhigung eingetreten, sagte Heinrich Löwen, Sprecher der Selbsthilfe Eschede. „Uns Betroffenen wurde viel zugemutet. Zunächst die abweisende Haltung der Bahn, die nicht bereit war, sich zu ihrer Verantwortung zu bekennen und Versäumnisse einzuräumen.“ Er beklagte, statt einer richtigen Aufklärung des Unglücks seitens der Bahn habe es nur eine juristische Abarbeitung gegeben. Auch die Gestaltung der Gedenkstätte habe sich als äußerst mühsam erwiesen, sagte Löwen. „Die Bahn zeigt aber, dass sie den Weg der Entspannung weitergehen will, was wir sehr begrüßen.“ Man habe nach 25 Jahren eine Verbesserung des Klimas zwischen allen Beteiligten erreicht, so Löwen.
Richard Lutz, Chef der Deutschen Bahn, sagte, er sei seinem Vorgänger Rüdiger Grube sehr dankbar, dass er die Leidtragenden vor zehn Jahren um Entschuldigung gebeten hat. Es sei richtig und wichtig gewesen, auch wenn die Opfer zu lange darauf warten mussten. „Im Namen des gesamten Vorstands der Deutschen Bahn möchte ich unsere Bitte um Entschuldigung und unsere Bitte um Verzeihung für das entstandene menschliche Leid erneuern“, sagte Lutz.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) mahnte, alles dafür zu tun, dass sich eine solche Katastrophe niemals wiederholen dürfe. Auflagen und Vorschriften seien verändert und Kontrollen von Infrastruktur und Technik verschärft worden, so Wissing.
Klar sei aber auch, dass dieser Prozess dynamisch weitergehen müsse und nie enden dürfe, sagte er. Wissing nahm alle verantwortlichen Akteure in die Pflicht, aufmerksam und wachsam zu sein. „Alle müssen Dinge ständig hinterfragen, Missstände ansprechen, ändern und anpassen.“
Auch der niedersächsische Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) wies auf die Verantwortung für die Sicherheit hin. Ein solcher Tag sei Anlass und Mahnung zugleich, der Opfer zu gedenken, die damaligen Ereignisse kritisch zu reflektieren und Lehren aus dem Unglück zu ziehen.
Während der Ansprachen rauschen einige Schnellzüge am Unglücksort entlang - leiser und langsamer als sonst. Wie in den vergangenen Jahren passieren sie die Stelle zum Zeitpunkt des Unglücks nur mit 60 Stundenkilometern.
„Nichts war mehr wie vorher“, sagt Heinrich Löwen im Kirschgarten vor den Betonstelen, an der auch die Namen seiner Frau und seiner Tochter eingraviert sind. Besonders bedrückend sei immer, dass diese Katastrophe vermeidbar gewesen wäre, sagt er. „Was wäre aus den Kindern geworden? Aus den Älteren? Hätten sie noch glückliche Jahre gehabt? Wir wissen es nicht. Wir müssen es aushalten und ertragen.“
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