Trauer und Zuversicht in Kiew - Z-Symbole in Moskau | FLZ.de

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Veröffentlicht am 24.02.2023 14:20

Trauer und Zuversicht in Kiew - Z-Symbole in Moskau

Trauernde nehmen in der Wladimirkathedrale in Kiew Abschied von dem gefallenen Soldaten Jurij Storoschew. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)
Trauernde nehmen in der Wladimirkathedrale in Kiew Abschied von dem gefallenen Soldaten Jurij Storoschew. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)
Trauernde nehmen in der Wladimirkathedrale in Kiew Abschied von dem gefallenen Soldaten Jurij Storoschew. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Vor der mittelalterlichen Sophien-Kathedrale steht Wolodymyr Selenskyj in seinem militärgrünen Outfit an diesem Morgen bei eisiger Kälte vor Hunderten Soldaten, als die ukrainische Hymne erklingt. Die blau-gelbe Fahne wird gehisst.

Andächtig und ohne Mütze würdigt der 45-Jährige die Verteidiger der Ukraine. Seit dem 24. Februar 2022 führt er das Land im Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. „Slawa Ukrajini!“, ruft er: „Ruhm der Ukraine.“ „Herojam slawa!“ - „Ruhm den Helden“ - ruft die Menge zurück.

Der Jahrestag des russischen Kriegsbeginns gegen die Ukraine ist bei den Angegriffenen ein Tag der Trauer über die vielen Toten. Er ist aber auch ein Tag der Zuversicht, dass die Ukraine am Ende siegt.

So sagt es auch Selenskyj schon vor dem gar nicht angekündigten Auftritt am frühen Morgen in Kiew: „Es war ein Jahr des Schmerzes, der Sorgen, des Glaubens und der Einheit.“ Es sei vor einem Jahr eine Entscheidung gewesen für viele, sich dem Kampf zu stellen oder die Flucht zu ergreifen. „Widerstand und Kampf“ ist auch Selenskyjs Wahl gewesen, obwohl in Moskau viele damit gerechnet hatten, er würde abhauen. „Wir wissen, dass 2023 das Jahr unseres Sieges sein wird“, sagt Selenskyj nun.

Vor der Sophien-Kathedrale verleiht er nach einer Schweigeminute Orden. Die Soldaten knien vor Fahnen nieder, küssen den Stoff. Es sind kaum Zuschauer da, der Platz ist weiträumig abgesperrt, die Sicherheitsvorkehrungen sind extrem. Nicht oft ist Selenskyj so in aller Öffentlichkeit auf einem freien Platz zu sehen.

In Kiew wird ein Soldat beerdigt

Ein paar Straßen weiter gehen die Hauptstädter heute ihrem Alltag nach, laufen mit Kaffeebechern in der Hand zur Arbeit. Es ist ein Tag ohne die befürchteten neuen russischen Raketen- oder Drohnenangriffe, ohne Luftalarm, der sonst eigentlich Alltag ist in Kiew. Als vor einem Jahr Kremlchef Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine befahl, versetzte das viele in der Hauptstadt in Panik. Zehntausende ergriffen die Flucht. Inzwischen sind viele zurückgekehrt.

Ein Jahr später macht sich aber am Jahrestag auch Trauer breit. In der Wolodymyr-Kathedrale - an dem im Sommer beschaulichen Botanischen Garten - verabschieden sich Soldaten in Uniform von ihrem Kameraden Jurij Storoschew. Der Soldat mit dem Kampfname Kruk (Krähe) diente in der „Ukrainischen Legion“, bis er vor einer Woche im Osten des Landes getötet wurde.

„Er war der beste Mensch, den es auf der Welt geben kann. Er hat am Tag, als er starb, noch eine Stunde vor seinem Tod, selbst Verletzten geholfen. Er war seit den ersten Tagen an der Front“, erzählt ein 39 Jahre alter Soldat unter Tränen. Er nennt sich Transit, kein echter Name. Er ist selbst verletzt am Knie. „Das ist nichts, es heilt. Dann gehe ich wieder an die Front.“

In der Kirche im byzantinischen Stil ist der Sarg aufgebahrt, mit der blau-gelben Staatsflagge bedeckt. Mehr als 100 Menschen sind gekommen, sie halten Kerzen am Sarg, während Priester und ein Kirchenchor ihnen mit herzzerreißenden Gesängen Beistand leisten. In seiner Predigt erinnert Erzpriester Bohdan Wajda daran, dass die Kirche die Menschen lehre, nach den Geboten Gottes zu leben. „Die Kirche kann Schandtaten und Mord nicht segnen“, betont er. Doch zugleich sei dem Feind dank der ukrainischen Soldaten eins „auf die Fresse“ gegeben und dieser weit weg gejagt worden.

Kurz danach knien die Soldaten am Sarg nieder, viele brechen in Tränen aus, Trauernde legen rote Rosen nieder. Jurij hinterlässt Frau und zwei Kinder, wie die Anwesenden erzählen.

Nationalismus und Kriegspropaganda in Moskau

In Moskau wird unterdessen demonstrativ Nationalismus zur Schau getragen - und eine ordentliche Portion Kriegspropaganda. Bereits seit Wochenbeginn inszeniert sich das Aggressorland als Opfer. In seiner Rede zur Lage der Nation warf Kremlchef Wladimir Putin dem Westen am Dienstag vor, „den Krieg losgetreten“ zu haben. Am Mittwoch ehrte er russische Soldaten im Moskauer Luschniki-Stadion - und rief der Russlandfahnen schwenkenden Menge zu: „Hurra! Hurra! Hurra!“ Am Donnerstag dann, dem „Tag der Vaterlandsverteidiger“, sprach Putin von der Verteidigung „unserer historischen Gebiete“.

Am selben Tag flanierten Hunderte Moskauer bei Sonnenschein und klirrend kalten Temperaturen um minus zehn Grad über den Roten Platz. Eltern fotografierten ihre Kinder vor Aufstellern mit den Buchstaben Z und V - den Unterstützungssymbolen für den Krieg. Männer posierten vor einem großen Schriftzug in den Farben der russischen Flagge: „My wmeste“ - „Wir halten zusammen“. Umfragen zeigen, dass die deutliche Mehrheit der Russen den noch immer als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Krieg weiter unterstützt.

Am Jahrestag selbst ist die Sonne in Moskau verschwunden, dichte Wolken sind aufgezogen, feiner Schnee rieselt. Kritik am Krieg gegen die Ukraine kommt vor allem von ins Ausland geflohenen Russen, die die Strafen des repressiven Machtapparats ihrer Heimat nicht mehr fürchten müssen. Von „Schmerz“ und „Scham“ ist in ihren Social-Media-Beiträgen mit Blick auf die vielen Tausend Opfer in der Ukraine die Rede.

Nach Tausenden Festnahmen in den ersten Kriegswochen sowie im Herbst nach Beginn der Mobilmachung findet Protest in Russland mittlerweile nur noch im ganz Kleinen statt. Auf einer Grünfläche im Moskauer Stadtzentrum sind in den frühen Morgenstunden ein Grablicht und ein handgeschriebener Zettel aufgetaucht. Mit roter Schrift steht dort: „Ukraine, vergib' uns.“ Nach wenigen Stunden ist der Zettel weggeräumt und ein Polizeiauto am Ort aufgetaucht.

© dpa-infocom, dpa:230224-99-725263/4


Von dpa
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