Wie junge Menschen einen Schicksalsschlag meistern | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 04.04.2023 14:47

Wie junge Menschen einen Schicksalsschlag meistern

Katharina Egger-Heidrich (r), Fachärztin Onkologie, bereitet die Patientin Michelle Müller im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum auf eine Blutabnahme vor. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)
Katharina Egger-Heidrich (r), Fachärztin Onkologie, bereitet die Patientin Michelle Müller im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum auf eine Blutabnahme vor. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)
Katharina Egger-Heidrich (r), Fachärztin Onkologie, bereitet die Patientin Michelle Müller im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum auf eine Blutabnahme vor. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Als die Diagnose „Verdacht auf Krebs“ wie ein Urteil fiel, sei sie „gedanklich nicht mehr da gewesen“, sagt Lisa Köhler. „Ich wollte in diesem Moment überall sein, nur nicht in diesem Zimmer im Krankenhaus. Es war ziemlich unwirklich“, erinnert sich die 20-Jährige an einen Tag im März 2019, als ihre Welt für einen Augenblick stillstand.

Das Thema sei ihr nicht unbekannt gewesen, in ihrer Familie habe es viele Krebsleiden gegeben. Auch ihr Vater habe mit der Krankheit gekämpft, den Krebs aber besiegt.

Als sie damals wieder „in die Realität“ zurückgekehrt sei, habe ihr erster Gedanke den Eltern gegolten, wie sie die Diagnose aufnehmen würden. „Ich hatte nicht einmal große Sorgen um mich, was der eine oder andere vielleicht nicht nachvollziehen kann. Aber ich war schon immer ein Familienmensch und meine Eltern stehen bei mir an erster Stelle“, sagt Lisa. „Mein zweiter Gedanke war: Wieso ich? Meine Eltern und mein damaliger Freund waren bei dem Gespräch mit dabei, und meine Eltern haben erst einmal angefangen zu weinen.“

Wütend und traurig

Bei Lisa Köhler lautete die Diagnose Lymphdrüsenkrebs. Der Verdacht bestätigte sich ein paar Tage später durch eine Biopsie. „Beschwerden hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine. Meine linke Halsseite war angeschwollen, was mir persönlich gar nicht wirklich aufgefallen ist.“ Zuerst hätten es ihre Eltern bemerkt. Auf ihrem Dorf habe es in kürzester Zeit jeder gewusst. „Da war ich ziemlich sauer. Wenn ich Zuhause war und die ganzen traurigen und mitfühlenden Blicke sah. Das hat mich wütend und irgendwie traurig gemacht.“

Auch Jasmin Thieme hat nach der Diagnose zuerst ihre Mutter trösten müssen. „Nach dem anfänglichen Schock stand sie mir aber immer zur Seite und unterstützte mich, ohne mich in Watte zu packen. Sie hat sich sehr bemüht, dass ich so normal wie möglich weiterleben konnte“, erzählt die 17-jährige Gymnasiastin, die an Blutkrebs leidet und diese Diagnose schon im Alter von 10 bekam. „Mein Umfeld reagierte dagegen sehr erschrocken und erschüttert. Ich selbst habe in Relation zu den Umständen relativ gelassen reagiert.“

Symptome kamen schleichend

„Natürlich wusste ich, dass Krebs eine Krankheit ist, die auch tödlich enden kann. Zu diesem Zeitpunkt war mir jedoch nichts weiter über die Ausmaße der Behandlung und die vielen Krankenhausaufenthalte bewusst“, gesteht Jasmin. Sie habe sich auch nicht immer krank gefühlt. „Das lag daran, dass die Symptome so schleichend kamen, dass ich die Veränderung, die der Krebs bewirkte, erst rückblickend wahrnahm.“ Etwa die mangelnde Kondition. Schon Treppensteigen habe sie an Grenzen gebracht: „Meine Haut hatte fast keine Farbe mehr.“

Bis heute ist Jasmin auf Medikamente angewiesen, deren Einnahme mit Fastenzeiten verbunden ist. „Sorge bereitet mir die Frage, ob die Medikamente dauerhaft wirksam und verträglich bleiben. Und ob ich mal eine tiefe Remission erreiche und irgendwann die Medikamente erfolgreich absetzen kann.“ Dennoch erlebe sie auch viele schöne Dinge, so wie kürzlich das Wintercamp des Dresdner Hilfsvereins Sonnenstrahl. „Aber auch kleine alltägliche Momente, wie Treffen mit meiner besten Freundin, lassen mich meine Sorgen kurz vergessen.“

Michelle Müller aus einer kleinen Ortschaft in Ostsachsen erwischte es im Februar 2019 - im Alter von 14. Die Diagnose lautete CML - chronische myeloische Leukämie - eine bösartige Bluterkrankung mit langsamem Verlauf. Die kommt vor allem bei älteren Erwachsenen vor. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Michelle vier Jahre später. „Ein ganz normaler Tag, ich war in der Schule, meine Eltern auf Arbeit.“ Am Tag zuvor sei sie noch bei der Kinderärztin gewesen, zur Nachkontrolle einer Zerrung.

„Meine Mama sprach dort an, dass ich kurzatmig sei und ob ich nicht mal einen Bluttest machen könnte. Da war mein Blut schon wie zähflüssiger Honig. Am nächsten Tag waren die Ergebnisse da. Die Ärztin sagte, ich müsse so schnell wie möglich ins Krankenhaus mit Verdacht auf Leukämie.“ In Görlitz wurden noch ein paar Tests mit ihr gemacht, danach ging es per Eiltransport nach Dresden. Ab diesem Moment veränderte sich für Michelle und ihre Eltern einfach alles.

Erwachsenwerden im Zeitraffer

Heute wirkt es fast so, als ob die Therapie an Michelle spurlos vorübergegangen wäre. Sie ist inzwischen eine junge Frau, macht eine Ausbildung als Industriekauffrau und kann wieder ihrer großen Leidenschaft nachgehen - dem Tanzen. Die Erkrankung hat sie wie in einem Zeitraffer reifen lassen. „Als ich damals aus dem Krankenhaus raus und dann in der Reha allein war, bin ich innerlich gewachsen und erwachsen geworden. Manchmal ging es mir schlecht, aber solche Punkte gibt es wohl bei jedem, der mit dieser Krankheit zu tun hat.“

Auf Tabletten ist Michelle bis heute angewiesen. Zudem muss sie die Transitionssprechstunde im Dresdner Uniklinikum besuchen. Sie kümmert sich mit speziellen Angeboten um Nachsorge und ist für Patienten gedacht, die im Kindesalter eine Krebserkrankung erleiden mussten und nun erwachsen werden. „Ich habe die Krankheit für mich angenommen und möchte wieder gesund werden“, nennt Michelle ihren größten Wunsch. Die anderen unterscheiden sich nicht groß von denen Gleichaltriger: Erfolg im Beruf, eine Familie gründen, glücklich sein.

Gefühlslage ein „Auf und Ab“

Auch bei Lisa Köhler ist der Krebs noch immer nicht vollends ausgestanden. Lisa macht eine Ausbildung zur Pflegefachkraft, muss noch Termine im Dresdner Universitätsklinikum wahrnehmen. Ihre aktuelle Gefühlslage beschreibt sie mit einem „Auf und Ab“. „Wenn ich sagen würde, dass ich die Zeit jemals richtig verarbeitet habe, würde ich lügen. Aber ich habe gelernt damit umzugehen und bin mittlerweile sehr offen, rede auch gern mit anderen Betroffenen darüber, um Mut zu machen.“ Die Angst vor einer neuerlichen Diagnose bleibe jedoch.

„Ich habe viele Tiefen und manchmal auch Höhen. Aber zurzeit überwiegen die Tiefen, leider“, verrät die junge Frau und verweist auf Schlafstörungen und Depressionen. Dennoch versuche sie aus der Lage das Beste zu machen. „Während der Therapie haben mir meine Eltern und Freunde sehr viel Kraft gegeben. Mein Papa war mein Vorbild. Ich dachte mir, da er es geschafft hat, schaffe ich es auch. Ich wollte nur gesund werden, den einen oder anderen Tiefschlag währenddessen musste ich hinnehmen.“

Momentan kämpft Lisa Köhler auf ganz eigene Weise gegen Krebs. Sie beteiligt sich an einem Kunstprojekt des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT/UCC) Dresden. Die 20-Jährige kann dabei ihre sprachliche Begabung zur Geltung bringen, mit Poetry Slam hat sie erste Erfahrungen gemacht. Ein Text von ihr gehört zum Programm des Benefiz-Konzertes „Takte gegen Krebs“, das am 2. Mai in Dresden eine Neuauflage erleben soll. Sie wolle damit „Teil von etwas Großem und Tollem sein“, sagt Lisa zu ihrer Motivation.

Krebs in jungen Jahren bremst alle Pläne aus

Das beim Konzert eingespielte Geld soll dazu dienen, die Betreuung junger Krebspatienten am Universitätsklinikum Dresden auszubauen. Ein Lotse soll Betroffene künftig vernetzen und ihnen Ansprechpartner sein. „Wenn Jugendliche und junge Erwachsene an Krebs erkranken, trifft sie das in einer sehr bewegten Lebensphase, in der Themen wie der Wunsch nach Selbstbestimmung, Schulabschluss, Ausbildung, Studium und Familienplanung im Vordergrund stehen und plötzlich alle Pläne durch die Krankheit ausgebremst werden“, schildert NCT-Sprecherin Anna Kraft die Lage Betroffener.

Derzeit bereitet der früherer Gewandhausmusiker Henry Schneider (67) die Patienten auf ihren Auftritt in der Dresdner St. Pauli-Ruine vor. Die im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte Kirche hat inzwischen ein Glasdach und wird für Theater und Konzerte genutzt. Schneider hat Geigen an die jungen Patienten verteilt und will sie zu einem kleinen Orchester zusammenfügen. Die Station im Uniklinikum, auf der einige der Mitwirkenden behandelt wurden, kennt er aus eigener Erfahrung. Er erkrankte vor drei Jahren an Krebs.

„Ich bin einer von Euch“, sagt Schneider, als er seine Musikerinnen und Musiker zur ersten Probe empfängt und stimmt sie gleich auf das Ziel des Projektes ein. „Es muss nicht perfekt sein, aber ehrlich. Mir schwebt ein Programm wie eine italienische Gemüsesuppe vor - da ist von allem etwas dabei. Wir wollen das Publikum nicht traurig aus dem Saal entlassen. Denn wir zeigen, dass das Leben schön ist und jede Menge Spaß macht.“

© dpa-infocom, dpa:230404-99-204707/2


Von dpa
north