In den dunkelsten Stunden schottete sich Radprofi Georg Steinhauser komplett ab. Der Giro-Etappensieger von 2024 rätselte, warum er sich so missmutig fühlte und plötzlich nur noch mit verminderter Leistung in die Pedale treten konnte. „Drei Tage war ich daheim in meiner Wohnung, habe mit niemandem gesprochen. Ich habe gefühlt kein Fenster geöffnet. Da habe ich gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann“, sagte der 24-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.
In seinem Körper hatten sich Bakterien breit gemacht, die dort nicht hingehören. Doch zu dem Zeitpunkt kannte Steinhauser die Krankheit kaum, die durch die Erreger ausgelöst wird. „Ich hatte mentale Probleme, war richtig down. Eigentlich in Richtung einer Depression. Das war dann auch meine Schlussfolgerung“, sagte er sich. Doch die Beschwerden, die sich im Sommer verschlimmerten, hatten eine andere Ursache - allerdings war sie zunächst schwer zu erkennen: Lyme-Borreliose, die durch Zecken ausgelöst wird. Vor der Erkenntnis durchlebte der ambitionierte Jungprofi eine mehrmonatige Leidenszeit.
Viele Geschichten über Spitzensportler mit der Erkrankung sind nicht bekannt. Der langjährige Fußballprofi Alexander Meier von Eintracht Frankfurt litt an Borreliose. Auch Ex-Profi Zoltan Sebescen gehört zu den Erkrankten. Mit 29 Jahren beendet er seine Karriere. Es heißt wegen Knieproblemen, begünstigt durch eine Borreliose-Erkrankung.
Borreliose taucht meistens nicht als Ursache in den Pressemitteilungen von Sportteams auf, wenn sie auf die Ausfälle ihrer Athleten aufmerksam machen. Generell erkrankt nur ein kleiner Teil an Menschen mit deutlich wahrnehmbaren Symptomen daran. Bei 0,3 bis 1,4 Prozent der Menschen mit Zeckenstichen ist demnach mit einer „klinisch manifesten Erkrankung“ zu rechnen, schreibt das Robert Koch-Institut.
Die Infektionskrankheit, die nicht von Mensch zu Mensch übertragbar ist, wird oft übersehen. „Das Problem ist, dass es nicht diagnostiziert wird“, sagte Herbert Rixecker auf dpa-Anfrage. Der Mediziner ist Erster Vorsitzender der Deutschen Borreliose-Gesellschaft. „Bei der chronischen Borreliose ist es sehr häufig, dass die Leute depressive Verstimmungen haben. Dann können sie auch noch intellektuellen Verlust, Wortfindungsstörungen oder Angststörungen haben“, erklärte er. Es sei nicht unüblich, dass eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen auch einen infektiösen Hintergrund haben könne.
Steinhauser erlebt dies am eigenen Körper. „Ich hatte keine Lust mehr aufs Radfahren, das hat mir alles keinen Spaß gemacht, weil es so viele Rückschläge gab“, sagte der gebürtige Allgäuer über die Situation, als er nicht wusste, was in seinem Körper passiert. „Zum Beispiel das mit dem Stimmungstief hätte ich nie erwartet.“
Etwas mehr als ein Jahr zuvor hatte der frühere Neffe von Jan Ullrich - das Radsport-Idol war mit Steinhausers Tante Sara verheiratet - noch seinen größten Karrieresieg bejubelt, als er bei der Bergankunft auf dem Passo Brocon eine Etappe beim Giro d'Italia gewann.
Doch nun stoppte ihn die Erkrankung. Es ist oft nur ein kurzer Moment, wenn die Zecke zuschlägt. Manche erkennen die Infektion schon an der häufig auftretenden Wanderröte. Das ist ein roter Ring, der sich um den Zeckenstich bildet.
Steinhauser fiel etwas Derartiges nicht auf. Im Sommer dieses Jahres merkte er, dass etwas nicht stimmt. „Zwei Stunden Training haben sich angefühlt wie vier“, erzählte er. „Beim Trainieren hat mir einfach die Power gefehlt, ich hatte keine Energie. Einmal habe ich ein Training abgebrochen und bin mit dem Zug heimgefahren. Die ganze Situation war schon sehr hart für den Kopf“, sagte er. Sein Gewicht veränderte sich. Normalerweise wiegt der im Gebirge erprobte Fahrer zwischen 70 und 71 Kilogramm. „Als es am schlimmsten war, hatte ich 67 Kilo. Gefühlt konnte ich gar nichts dagegen machen.“
Steinhauser lebt in der Nähe des Bodensees, auf der österreichischen Seite. Zecken sind regional unterschiedlich verbreitet, doch die Borreliose kann in ganz Deutschland übertragen werden.
Die Ärzte seines amerikanischen Teams und sein Hausarzt untersuchten den Profi gründlich. Doch so richtig wurden sie nicht schlau aus seinem Leistungsabfall. „Niemand wusste so richtig, woran es liegt. Ich habe alles durchchecken lassen: Blutprobe, Stuhlprobe. Aber da hat man einfach noch nichts gesehen“, sagte er. Allerdings wurde dabei nicht spezifisch auf die Borreliose-Erreger getestet.
Mediziner Rixecker kennt diese Hürden. „Das Problem ist, dass normale Labortests, die Sie so beim Hausarzt machen, zum Teil nicht aussagekräftig genug sind“, erläutert er. Bei Erkrankungen in der Anfangszeit können Tests auf Antikörper gegen Borrelien etwa negativ ausfallen. Und bei chronischen Verläufen kommt es auch vor, dass Labortests nicht anschlagen. Manchmal führen auch die unspezifischen Symptome und die fehlende Wanderröte dazu, dass der Arzt keine Borreliose bei der Laboranalyse in Erwägung zieht.
Die Borreliose, zu der es keine Impfung gibt, hat keinen typischen Verlauf. Müdigkeit, Leistungsabfall, Konzentrationsstörungen, Muskel- und Gelenkschmerzen und Fieber können auftreten. Durch die teils fehlenden Symptome sind Zahlen zu den Fällen in Deutschland schwierig. Das Robert Koch-Institut schreibt, dass es sich bei den allermeisten Erkrankungen um vergleichsweise milde Verläufe handele, die mit Antibiotika gut behandelbar seien und auch behandelt werden müssten, damit keine Komplikationen auftreten.
Nach einiger Zeit testete Steinhausers Hausarzt noch einmal konkret auf Borreliose - mit Erfolg. „So haben wir es dann herausgefunden. Das war für mich natürlich hilfreich, dass wir wenigstens einen Grund hatten“, sagte der 24-Jährige.
Mittlerweile geht es Steinhauser wieder besser. Im November bestritt er ein Trainingslager in Spanien. „Im Moment fühle ich mich gut, auch vom Kopf her“, sagte er. Sollte das so bleiben, hat der deutsche Radprofi Chancen, im kommenden Sommer zum ersten Mal an der Tour de France teilzunehmen.
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