Mit der Feuerpause im Gaza-Krieg haben Israel und die islamistische Hamas jeweils wichtige Ziele für sich erreicht: die Freilassung Dutzender israelischer Geiseln und die Entlassung mehr als 200 palästinensischer Häftlinge. Die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen wiederum bekommt deutlich mehr Hilfe als zuvor. Doch unklar bleibt, wie es weitergehen soll. Fragen und Antworten zur Feuerpause:
Die Vermittler Katar und Ägypten bemühen sich um eine erneute Verlängerung der Waffenruhe. Grundsätzlich hatten sich Israel und die Hamas vorletzte Woche auf einen Zeitrahmen für die Feuerpause von maximal zehn Tagen geeinigt. Dieses Zeitfenster endet Montag früh. Der Sicherheitsberater der israelischen Regierung, Mark Regev, sagte CNN, wenn die Hamas zehn israelische Geiseln freilasse, werde die Feuerpause um jeweils einen Tag verlängert. Israel besteht darauf, dass es sich um lebende Geiseln handelt. Die Frage ist, ob die Hamas diese Forderung erfüllen wird.
Israelischen Medienberichten zufolge legte die Hamas am Donnerstagmorgen kurz vor Ablauf der Frist eine Liste mit acht lebenden Geiseln vor. Zudem werde über die Herausgabe von drei Leichen verhandelt, hieß es. Die US-Regierung hatte am Montag mitgeteilt, sie gehe davon aus, dass nicht alle Geiseln in Hand der Hamas seien. Der Sender CNN berichtete unter nicht namentlich genannten diplomatischen Quellen von schätzungsweise 40 Geiseln.
Bis Donnerstagmittag wurden 97 von der Hamas in den Gazastreifen verschleppte Geiseln gegen 210 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen ausgetauscht. Dazu wurden am Donnerstagnachmittag noch zwei Frauen freigelassen. Unter den freigelassenen Geiseln befinden sich 75 Israelis - darunter 14 auch mit deutscher Staatsangehörigkeit - sowie 23 Menschen aus Thailand und eine Person von den Philippinen. Bei den palästinensischen Häftlingen handelt es sich um Frauen und Minderjährige, die jüngsten 14 Jahre alt. Ihnen wurden unter anderem das Werfen von Brandbomben, Brandstiftung oder Messerattacken zur Last gelegt.
Israel vermutete laut der „Times of Israel“ vom frühen Donnerstagmorgen, dass sich noch rund 145 Geiseln - unter ihnen 15 Frauen und Kinder - im Gazastreifen befinden. Nach früheren Zahlen müssten darunter auch noch etwa sechs Geiseln mit deutschem Pass sein. Vermittler Katar kann laut Außenamtssprecher Madschid Al-Ansari vom Dienstag die genaue Zahl der verbliebenen Geiseln nicht bestätigen. Ursprünglich waren laut israelischen Angaben rund 240 Geiseln verschleppt worden.
Angehörige von Geiseln haben in israelischen und internationalen Medien davon berichtet, dass ihre Familienmitglieder in der Gefangenschaft nicht misshandelt worden seien. Es habe aber Tage ohne Essen gegeben. Manchmal hätten die Verschleppten eineinhalb Stunden warten müssen, bis sie zur Toilette durften. An manchen Tagen habe es nur Fladenbrot gegeben oder nur eine kleine Portion Reis. Geschlafen hätten sie auf Bänken oder zusammengeschobenen Stühlen. Eine Verwandte eines freigelassenen Zwölfjährigen berichtete, Kinder seien mit der Waffe bedroht worden, damit sie ruhig seien. Der Junge berichtete nach seiner Freilassung demnach, er sei gezwungen worden, Videos des Terrorangriffs auf Israel am 7. Oktober anzuschauen. Er habe zudem die ersten 16 Tage seiner Geiselhaft alleine in einem geschlossenen Raum verbringen müssen.
Bisher gibt es keine Verlautbarungen über ein Geisel-Abkommen für die männlichen Geiseln und die Soldaten. Es ist davon auszugehen, dass die Hamas vor allem für die Soldaten deutlich höhere Forderungen stellen wird als für Frauen und Kinder. In israelischen Medien wird bereits spekuliert, dass die Armee versuchen könnte, die Soldaten am Ende mit Gewalt zu befreien. Laut Rundfunk wurden rund zehn Soldaten am 7. Oktober von ihren Militärbasen verschleppt.
Israel hat in der Vergangenheit schon bittere Erfahrungen mit dem Austausch eines verschleppten Soldaten gemacht: 2011 wurde der israelische Soldat Gilad Schalit, der 2006 entführt wurde und mehrere Jahre in Gefangenschaft der Hamas war, im Tausch für mehr als 1000 palästinensische Häftlinge freigelassen. Dabei kam auch der heutige Hamas-Chef im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, frei.
Nein. Israel hat den Gazastreifen durch seine Bodenoffensive im Norden effektiv in zwei Teile geteilt. Kurz nach Beginn der Feuerpause waren Soldaten im Einsatz, um vertriebene Palästinenser daran zu hindern, aus dem Süden des Gazastreifens zu ihren früheren Wohnorten im Norden zu gelangen, um diese zu inspizieren oder nach Angehörigen zu sehen. Nach Angaben aus Hamas-Kreisen wurden im zentralen Bereich des Gazastreifens zwei Menschen durch Schüsse getötet und weitere verletzt, als sie versuchten, in den Norden zu gelangen. Im südlichen Teil gab es aber weitgehend Bewegungsfreiheit.
Die notleidenden Menschen in Gaza sind nach rund sieben Wochen Krieg völlig zermürbt. Helfer sprechen von einer dramatischen humanitären Krise. Inzwischen sind dort UN-Angaben zufolge rund 1,8 Millionen Menschen, also rund drei Viertel der Bevölkerung, Binnenflüchtlinge. Es fehlt an so ziemlich allem: Essen, Wasser und Arzneimittel sind sehr knapp, und auch die Chancen auf ärztliche Behandlung. Infolge der massiven israelischen Luftangriffe und der Bodenoffensive im Nordteil wurden nach Angaben der Hamas-Behörden fast 15.000 Menschen getötet, mehr als 36.000 Menschen wurden verletzt. Die Zahlen lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen, werden von den UN und Diplomaten aber als insgesamt glaubwürdig angesehen. Seit Beginn der Feuerpause sind dem Palästinensischen Roten Halbmond zufolge bis Mittwoch 1132 Lastwagen mit Hilfslieferungen im abgeriegelten Küstenstreifen angekommen.
Enorm, so viel ist sicher, das zeigen zahllose Fotos aus dem Kriegsgebiet. Thomas White, UNRWA-Direktor für Gaza, beschrieb die Stadt Gaza als „Geisterstadt“, alle Straßen seien verlassen und das Ausmaß an Zerstörung enorm. US-Forschern zufolge wurden seit Kriegsbeginn wohl zwischen 67.000 und 88.000 Gebäude beschädigt. Das geht aus einer Analyse der Decentralized Damage Mapping Group (DDMG) hervor, bei der eine Gruppe von US-Wissenschaftlern die Angriffe in dem Küstengebiet mit Satellitendaten untersuchte. Im nördlichen Gazastreifen wurden demnach 50 bis 60 Prozent der Gebäude beschädigt.
Danach sieht es momentan nicht aus. Israel hat sehr deutlich gemacht, dass es die Feuerpause nur als solche betrachtet - als Pause. Regierungschef Benjamin Netanjahu betont immer wieder, der Krieg werde fortgeführt, bis Israel alle seine Ziele erreicht habe. Dazu gehörten die Eliminierung der Hamas sowie die Rückkehr aller Geiseln. Zudem dürfe von Gaza keine Bedrohung für Israel mehr ausgehen. Netanjahu kündigte zuletzt am Mittwoch an, die Kämpfe wieder aufzunehmen, wenn „diese Phase der Rückkehr unserer Geiseln vollendet ist“.
Die Hamas wiederum will am Ende einen islamisch geprägten Staat auf dem Gebiet des gesamten historischen Palästinas einrichten. Den Staat Israel will sie zerstören. Ein Sprecher der Terrororganisation hat auch damit gedroht, die Massaker vom 7. Oktober zu wiederholen. Die USA, aber auch Deutschland haben Israels Ablehnung eines langfristigen Waffenstillstandes bisher unterstützt.
Dass die Zahl der zivilen Opfer nochmals drastisch steigen wird. Von den nach UN-Angaben rund 1,8 Millionen Binnenflüchtlingen befinden sich viele im Süden des Küstengebiets in überfüllten Notunterkünften. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits vor der massiven Ausbreitung von Krankheiten gewarnt, die letztlich mehr Tote fordern könnten als die Kämpfe. Sollte die israelische Armee wie angekündigt ihre Angriffe auf Hamas-Ziele fortsetzen und dann den Süden verstärkt ins Visier nehmen, ist fraglich, wie die Bevölkerung geschützt werden kann. Zudem ist unklar, wie die Versorgung der notleidenden Menschen mit humanitären Gütern überhaupt noch möglich sein wird.
Das ist unklar. Regierungschef Netanjahu sprach davon, dass Israel auch nach einem Sieg über die Hamas weiter eine Rolle bei der Sicherung des Gebiets spielen müsse. Gleichzeitig warnen unter anderem die USA, der wohl wichtigste Verbündete Israels, ausdrücklich vor einer erneuten Besatzung des Gazastreifens. Die US-Regierung will, dass die Palästinensische Autonomiebehörde neben dem Westjordanland künftig auch wieder für den Gazastreifen verantwortlich sein wird. Die langfristige Hoffnung ist eine Zweistaatenlösung, also ein friedliches Nebeneinander von Israel und einem palästinensischen Staat - was derzeit unrealistisch erscheint.
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