„Und es ist ein unglaublicher Moment“ | FLZ.de

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Veröffentlicht am 01.05.2020 08:12

„Und es ist ein unglaublicher Moment“

Sang die Sopranpartie in Gustav Mahlers vierter Symphonie: Christiane Karg beim Geisterkonzert der Berliner Philharmoniker am 1. Mai 2020 (Foto: Monika Rittershaus)
Sang die Sopranpartie in Gustav Mahlers vierter Symphonie: Christiane Karg beim Geisterkonzert der Berliner Philharmoniker am 1. Mai 2020 (Foto: Monika Rittershaus)
Sang die Sopranpartie in Gustav Mahlers vierter Symphonie: Christiane Karg beim Geisterkonzert der Berliner Philharmoniker am 1. Mai 2020 (Foto: Monika Rittershaus)

Wie ein „großes Schweigen“ waren für Christiane Karg die vergangenen Wochen: keine Proben, keine Auftritte. In der letzten Vorstellung der Berliner Staatsoper vor deren Corona-Schließung sang sie schon vor leeren Reihen nur für Kameras und Mikrofone. Jetzt ist die Feuchtwanger Sängerinnen für ein einziges, aber außergewöhnliches Konzert nach Berlin zurückkehrt. Wieder singt sie vor leeren Reihen, heute am 1. Mai um 11 Uhr in einer Matinee mit den Berliner Philharmonikern.

„Ich bin ja schon ein bisschen trainiert in Geistervorstellungen“, meint Christiane Karg mit Blick auf die Berliner Staatsoper und staunt selbst ein wenig über diese „seltsame Sache, diesen Zufall“, dass sie jetzt für ein Geisterkonzert engagiert ist.

Es ist ein Konzert, das symbolisch aufgeladen ist. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird es mit einer kurzen Ansprache eröffnen. Ursprünglich wollte er am 1. Mai in Tel Aviv sein – und mit ihm die Berliner Philharmoniker. Das Spitzenorchester und ihr Chefdirigenten Kirill Petrenko wären danach weiter auf eine Europa-Tournee gegangenen. Sie ist abgesagt, genauso wie der Staatsbesuch. Nun, in die Matinee zum 1. Mai, ins Europakonzert der Berliner, hat Petrenko zumindest das Hauptwerk der Tournee retten können: Gustav Mahlers vierte Sinfonie. Sie ist vermeintlich ein heiteres Werk, in Wahrheit aber eher ein doppelbödiges. Die Sopranpartie im zehnminütigen Finalsatz, auf den die Sinfonie zuläuft, singt wie für die Tournee geplant Christiane Karg.

Anders als geplant ist die Besetzung: „Wir sprechen nicht von hundert, sondern von zwölf Musikern“, erzählt die Sängerin nach der Probe und kommt ins Schwärmen. „Schöner kann man es eigentlich nicht haben. Es ist eine wunderbare Besetzung.“ An den Pulten sitzen die meisten Solisten der Berliner Philharmoniker.

Große Symphonie in Kammerbesetzung

Aufgeführt wird die Kammermusikfassung, die vor hundert Jahren der Schönberg-Schüler Erwin Stein erstellt hat. Möglich ist dies in Zeiten der Pandemie nur ohne Publikum und mit strengen Regeln: „Hinter den Kulissen müssen wir Schutzmasken tragen“, schildert Christiane Karg die Situation. Corona-Tests sind selbstverständlich. Auftreten darf nur, „wer gesund kommt und gesund bleibt“. Das Podium betreten dürfen die Künstler nur versetzt. Festgelegt ist, wie weit die Streicher zusammensein dürfen und wie weit die Bläser auseinander sitzen müssen. Christiane Karg wiederum darf nur nach vorne in den Raum singen und sich nicht umdrehen – „wegen der feuchten Aussprache“, ergänzt sie nicht ohne Ironie.

„Mir ist klar, dass das ein Konzert allein auf weiter Flur werden wird“, sagt die Sopranistin. „Alle wissen, dass deswegen nicht morgen der Betrieb weitergeht. Es ist ein erster Versuch unter höchsten Sicherheitsauflagen. Toll, dass die Berliner Philharmoniker dafür gekämpft haben.“

Es kann dauern, bis die Philharmoniker das nächste Konzert vor Publikum geben. Mit Kirill Petrenko, wenn alles gut geht, erst wieder Ende August in Berlin und bei den Salzburger Festspielen. Das ist noch lang. Das Konzert heute, das in der ARD, im Rundfunk und online in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker übertragen wird, ist nur ein kleiner Ersatz. Aber: „Alle sind wahnsinnig dankbar. Atmen durch, dass es wieder losgeht“, erzählt Christiane Karg.

Die Zwangspause kam zu plötzlich. „Man kann eigentlich nicht von heute auf morgen aufhören. Und das ist passiert.“ Ein Musiker, eine Musikerin, ist die Sopranistin überzeugt, sucht sich den Beruf nicht einfach aus. Der Beruf kommt zum Menschen, weil er Musik machen muss – nicht nur will, sondern muss. „Wir sind eines Teils unserer Persönlichkeit in dieser Zeit beraubt“, sagt die Sängerin. „Ich fühle mich sehr stumm in diesen Wochen.“

Um so befreiender war es für sie, mit den Philharmonikern zu arbeiten oder nur einfach im Saal zu sitzen und ihnen zuzuhören: „Ja“, erzählt Christiane Karg von ihren Probeneindrücken, „jetzt wird dieses Schweigen mal gebrochen. Und es ist ein unglaublicher Moment.“

Nach Singen war ihr in den vergangenen Wochen nicht. Live-Streaming aus dem Wohnzimmer, was andere Klassik-Stars durchaus probieren, liegt ihr nicht. Ihr fehlt die äußere Form. Abgesehen davon sind ihr schlechte Handy-Aufnahmen ein Graus. „Die Perfektion, die wir alle wollen, bleibt auf der Strecke.“ Und sie gibt zu bedenken, dass kostenlose Live-Streams zu falschen Publikumserwartungen führen können und jetzt, wo so viele Künstler auf finanzielle Unterstützung warten, nicht weiterhelfen: „Wie sollen wir aber, die wir jetzt eigentlich vor dem Ruin stehen, überleben?“

Genossen hat Christiane Karg, unfreiwillig frei von allen Verpflichtung, die Zeit mit der Familie daheim in Feuchtwangen. „Das ist ein Gut, das nicht alle haben und mich über diese Wochen gerettet hat. Ein Kinderlachen ist einfach etwas Wunderbares“, sagt die Mutter eines einjährigen Sohnes. Froh war sie, nicht an Berlin gefesselt zu sein. „Seit langer Zeit habe ich wieder den Frühling gesehen und intensiv erlebt bei Spaziergängen über die Wiesen.“ Sonst, ständig auf Achse und in vielen Ländern gefragt, rutschen die Jahreszeiten oft einfach vorbei. Ganz ohne Musik waren die Spaziergänge nicht. Christiane Karg dachte an Franz Schubert und seine Lieder.

Jetzt aber konzentriert sie sich auf die „Himmlischen Freuden“ im Finale von Mahlers Vierter. „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, die uns’rer verglichen werden kann“, heißt es da und auch, „dass alles für Freuden erwacht.“ Kindlich-naiv scheint Mahlers Paradies-Vision, aber sie endet, nachdem von den erwachten Freuden die Rede war, mit einem ersterbenden tiefen E in den Kontrabässen – ein rätselhafter Schluss. „Ich glaube“, sagt Christiane Karg, „dieses Fragezeichen war noch nie so groß wie in diesem Moment.“


Thomas Wirth
Thomas Wirth

Redakteur im Ressort „Kultur“

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