Veröffentlicht am 23.02.2023 09:41

Schützin aus Wilhermsdorf: Mit höchster Präzision zur EM

Vanessa Gleißner ist im deutschen Team bei den Europameisterschaften in Estland dabei. (Foto: Alexander Keck)
Vanessa Gleißner ist im deutschen Team bei den Europameisterschaften in Estland dabei. (Foto: Alexander Keck)
Vanessa Gleißner ist im deutschen Team bei den Europameisterschaften in Estland dabei. (Foto: Alexander Keck)
Vanessa Gleißner ist im deutschen Team bei den Europameisterschaften in Estland dabei. (Foto: Alexander Keck)

Aus zehn Metern Entfernung mit dem Luftgewehr einen Fliegenschiss treffen. Vanessa Gleißner kann das. Auch 60 Mal hintereinander. Deshalb darf sie für Deutschland zur Europameisterschaft. Gleißner ist Arzthelferin, Mutter und Leistungssportlerin. Für sie ist Belastung Freude.

10,7, 10,5, 10,8. Ihre ersten Treffer an diesem Trainingsabend im Schützenhaus in Weihenzell. Nicht schlecht. Damit lässt sich arbeiten.

Um was es geht in diesem Sport: Mit Luftdruck ein im Durchmesser 4,5 Millimeter großes Bleigeschoss in die Mitte des zehn Meter entfernten Sensors zu platzieren. Die Mitte, die Zehn, ist 0,5 Millimeter groß. So groß wie die Spitze eines Kugelschreibers. Die Scheibe beim Biathlon ist 11,5 Zentimeter groß – ein Scheunentor.

Der beste Schuss ist eine 10,9. Maximal möglich sind bei 60 Schuss 654 Ringe. Das hat noch keiner geschafft. Der Weltrekord steht bei 633,5.

Die Bestleistung von Gleißner: 630,1 Ringe. Macht einen Schnitt von 10,5 Ringen auf 60 Schuss. Wahnsinn eigentlich. Höchste Präzision bei minimaler Fehlertoleranz.

0,01 Millimeter können eine Rolle spielen

Die kleinste Veränderung im Ablauf, am Gerät oder dem Material kann große Probleme bereiten. Zum Beispiel die Munition.

Am Stand neben Gleißner liegen ausgedruckte Ergebnisse der Munitionstests vom Nachmittag. Da geht es um Abweichungen im Bereich von 0,01 Millimetern. Auch die können eine Rolle spielen, wenn am Ende 0,2 Ringe fehlen.

Gleißner ist 36. Sie kennt noch die Zeit, in der man mit einem Stapel Zielscheiben, dick wie ein Paket Rommé-Karten, zum Stand ging, oder den nicht weniger unhandlichen Streifenscheiben. Dann schoss sie Löcher in die Pappen, die von anderen Leuten begutachtet (ausgewertet) wurden. Das konnte dauern. Erst die elektronischen Stände mit sofortiger Trefferanzeige verliehen dem Sport neuen Drive.

Bald war eine Zehn nicht mehr nur eine Zehn und eine Neun nicht mehr nur eine Neun (wie es heute noch in den Ligawettbewerben üblich ist), sondern die Treffer wurden mit Kommastelle angegeben. Die Zehntelschinderei im Millimetermilieu begann. Gleißner ist da jetzt wieder ganz vorne dabei in Deutschland. Man kann das erstaunlich finden. Oder als Krönung einer famosen Saison.

Wer beim Deutschen Schützenbund Informationen über Gleißner sucht, immerhin Teil der Frauenmannschaft, die in der Hauptstadt von Estland Anfang März um Medaillen kämpft, sucht vergeblich. Auch beim Weltcup in Kairo dieser Tage, Teil der Vorbereitung auf die EM, ist sie im Gegensatz zu den Teamkolleginnen nicht dabei.

Arzthelferin düpiert die nationale Elite

Gleißner hat es ins EM-Team geschafft, ohne Teil des Nationalkaders zu sein und damit ohne die für Kadersportler obligatorische Unterstützung.

Im entscheidenden Qualifikationswettkampf, bestehend aus drei 60-Schuss-Programmen, belegte sie nach 627, 630,1 (Wettkampfrekord) und 626 Ringen Platz zwei und ließ Frauen hinter sich, die bei Weltcups und Olympischen Spielen am Start waren. Man könnte auch sagen, sie düpierte die nationale Elite. Wer ihre Auftritte in der Liga verfolgt hatte, war davon nicht gar so überrascht.

Nummer eins in der Bundesliga

In der abgelaufenen Bundesliga-Saison war Gleißner die Nummer eins beim SV Petersaurach mit einen Schnitt von 397,18 Ringen (bei 40 Schuss auf volle Ringe). Bestwert in ihrer langen Karriere. Seit 13 Jahren ist sie in der Liga für den SV Petersaurach (Landkreis Ansbach) aktiv und hält mit mittlerweile 140 Einsätzen den Rekord. Ungezählt ihre Titel und Medaillen bei Deutschen Meisterschaften.

Oft war sie bei den Ausscheidungen für die großen internationalen Wettkämpfe dabei. Und schon einmal erfolgreich. 2019 schaffte sie es ins EM-Team für Kroatien.

Gleißner scheint im Lauf der Jahre weder Motivation noch Klasse zu verlieren. Sie wird älter und immer besser. Wie macht sie das? Das ist eine der Fragen, die man an diesem Abend in Weihenzell gerne klären würde. Die andere: Wie schafft sie das?

Zwischen sperrigen Gewehrkoffern und geräumigen Taschen (es sieht immer nach Umzug aus, wenn Sportschützen das Haus verlassen) versucht Gleißner ein Antwort. Eine Anleitung bleibt sie schuldig. „Ich habe bei der Ausscheidung nicht damit gerechnet, so weit nach vorne zu kommen und habe deshalb relativ entspannt geschossen“, sagt Gleißner. Das sei offenbar kein schlechter Ansatz gewesen.

Hausaufgaben sind immer schon gemacht

Was sie sonst noch sagt, kann man so zusammenfassen: Das Schießen ist ihr Sport, an dem sie nach wie vor die größte Freude hat. Und alles andere drumherum ist in ihrem Sinne geregelt.

Zum Beispiel der Job als Arzthelferin, der sie mehr als 30 Stunden die Woche bei einem Orthopäden beschäftigt. Der Jahresurlaub dort geht für Lehrgänge drauf.

Zum Beispiel die Familie, bestehend aus ihrem Mann, selbst Schütze und entsprechend verständnisvoll, sowie dem neunjährigen Sohn, der die Hausaufgaben immer schon gemacht hat, wenn die Mama nach Hause kommt.

Leistungssport muss keine Belastung sein

„Meine Männer machen das schon, das ist echt ein großer Vorteil“, sagt Gleißner. Noch ein Versuch: Wie ist das so mit der Dreifachbelastung aus Beruf, Familie, Leistungssport? Ja, also, Belastung sei das ja alles eigentlich nicht, so wie es im Moment läuft.

Die Frage nach der Work-Life-Balance bleibt dann ungestellt und Gleißner beginnt ihre Rüstung anzulegen, bestehend aus Schuhen, Jacke und Hose. Die Kleidung ist steif, um den Körper zu stabilisieren und von einem Hersteller aus Indien, der aktuell in der Szene sehr begehrt ist.

„Einstellung, Technik und Ausrüstung, das alles muss passen, um gute Ergebnisse zu schießen. Und bei Vanessa passt alles“, sagt Günther Reizammer, seit vielen Jahren ihr Trainer im Verein.

Als berufstätige Mutter mit Mitte 30 ist Gleißner im Kreis der Nationalmannschaft eine Exotin. Da gibt es Studentinnen mit aller Zeit der Welt für ihren Sport oder auch Polizistinnen aus der Sportfördergruppe, Profis sozusagen. Viele sind Anfang, Mitte 20. Die checken in den Pausen beim Lehrgang Instagram, während Gleißner mit daheim telefoniert.

Anfang März geht der Flieger nach Tallinn

Zur Vorbereitung auf die EM ruft der Bundestrainer seiner Leute zu mehreren mehrtägigen Lehrgängen in München, Vorarlberg und Ruhpolding zusammen. Anfang März geht der Flieger nach Estland.

Gleißner stapft hinüber an den Stand, spult das vieltausendfach wiederholte Programm ab. 10,7, 10,5, 10,8.

Mit 60 Treffern dieser Güte wäre sie auch bei der EM eine gute Platzierung drin. Was sie sich dort erhofft? „Nicht Letzte werden“, sagt Gleißner und freuen würde sie sich schon, wenn es besser laufe würde als bei der Premiere 2019. Da kam sie mit 620,2 Ringen auf Platz 47.


Alexander Keck
Alexander Keck

Der noch in Vor-Internetzeiten der FLZ zugelaufene Schwarzwälder hat im Verlauf von fast drei Jahrzehnten die fränkischen Merkwürdigkeiten, die in Ohrmuscheln (Allmächd!) und auf Esstellern (Saure Zipfel!) landen schätzen gelernt. Nur die im Vergleich zu Spätzle stets zu breiigen Knödel mag der Schwabe nicht. Das Schreiben über Sport dagegen immer noch sehr - gerne auch abseits des Mainstreams.

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