Andalusien: Zeitreise im weißen Dorf | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 14.07.2022 05:02

Andalusien: Zeitreise im weißen Dorf

Die Pfarrkirche Divino Salvador steht am höchsten Punkt der Stadt. (Foto: Anita Reker/dpa-tmn)
Die Pfarrkirche Divino Salvador steht am höchsten Punkt der Stadt. (Foto: Anita Reker/dpa-tmn)
Die Pfarrkirche Divino Salvador steht am höchsten Punkt der Stadt. (Foto: Anita Reker/dpa-tmn)

In schwarzer Lederjacke, das silbergraue Haar zu einem Dutt zusammengebunden, spaziert José Manuel Acuña entlang der zwei Kilometer langen Stadtmauer, die seine Geburtsstadt Vejer de la Frontera komplett umschließt.

Quasi zu jedem Stein hat der 56-Jährige eine Geschichte parat: Die großen rechteckigen stammten noch aus der Zeit der Römer, die hier ungefähr bis ins 4. Jahrhundert nach Christus das Sagen hatten. Sie wurden abgelöst von den Westgoten, die kleinere, würfelförmige Steine bevorzugten, die ebenfalls in der Stadtmauer zu finden sind.

Weil uns ein heftiger Ostwind - der Levante - um die Ohren pfeift, suchen wir Schutz in einer Einbuchtung der Mauer und blicken durch eine Schießscharte auf eine grüne Landschaft, die bis auf ein paar Windräder kaum bebaut ist.

In dem Gebiet, in dem heute die Windräder stehen, gab es im Jahre 711 eine blutige Schlacht zwischen Westgoten und muslimischen Angreifern, erzählt Acuña. „Damals stand ein Heer aus 100.000 Goten einer Armee aus gerade einmal 10.000 Arabern und Mauren gegenüber.“

Gekämpft wurde im Juli bei unsäglicher Hitze im Schlamm der Lagune de la Janda. Die zahlenmäßig unterlegenen Angreifer seien mit ihren großen Araber-Pferden den Westgoten, die zu Fuß oder auf kleinen Pferden kämpften, deutlich überlegen gewesen.

Mit diesem Sieg der Araber im Umland von Vejer nahmen sieben Jahrhunderte islamische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel ihren Anfang. Und natürlich: Auch die muslimische Art zu bauen, findet sich in der Stadtmauer. Acuña zeigt kleine, abgeflachte Steine, die aus dem Felsen gewonnen wurden, auf dem die Stadt erbaut wurde.

„Über viele Jahrhunderte, bis zur Eroberung der Stadt durch die Christen, lebten Juden und Muslime hier wie Brüder und Schwestern“, erfahren wir, während wir die Pfarrkirche Divino Salvador passieren, die im 14. Jahrhundert auf dem höchsten Punkt der Stadt erbaut wurde - und auf den alten Mauern einer Moschee.

„Die Muslime erlaubten den hier ansässigen Juden damals, ihr Gotteshaus ebenfalls zu nutzen“, so Acuña. Da Mekka und Jerusalem von Andalusien aus ungefähr in derselben Richtung liegen, sei die Ausrichtung des Gebäudes praktischerweise für beide Religionsgemeinschaften genau richtig gewesen.

An die heute christliche Kirche schließt sich das jüdische Viertel an. In einer kleinen Gasse fällt uns eine Rundbögen-Konstruktion ins Auge - die Arcos de la Judería. Sie seien wohl das am häufigsten fotografierte Motiv der Stadt, sagt Acuña. Gemauert worden seien sie allerdings nicht bloß wegen der schönen Optik, sondern weil ein Erdbeben im Jahr 1773 das christliche Kloster, an dessen Mauern das Gässchen entlangführt, beinahe zum Einsturz gebracht hatte.

An der Südseite der Stadtmauer verlassen wir das Herz der Altstadt durch eines von insgesamt fünf Toren der historischen Mauer: Puerta Cerrada bedeutet so viel wie verschlossene Tür. Über Jahrhunderte hinweg soll das Tor tatsächlich verbarrikadiert gewesen sein, um Piraten den Zugang zur Stadt zu verwehren.

Dahinter liegt eine Aussichtsplattform, auf der uns die Statue einer in schwarzen Stoff gehüllten Frau erwartet. „Die Cobijada ist ein christliches Gewand aus dem 16. Jahrhundert“, erklärt Acuña.

Sie habe vor allem dazu gedient, Frauen auf der Straße vor den Blicken der Männer zu schützen. „Nur das linke Auge ist frei, damit man in ihr Herz sehen kann.“ Sobald die Trägerin einen geschützten Raum betreten habe, konnte sie den schwarzen Stoff mit einer Bewegung zurückwerfen und ihre darunterliegende bunte Kleidung präsentieren.

Nachdem Diktator Franco in den 1930ern die Cobijada verboten hatte, sei sie nie wieder in die Kleiderschränke der Spanierinnen zurückgekehrt. Heute werde sie nur noch auf Volksfesten getragen.

Wir setzen unseren Gang durch die touristisch geprägte Altstadt fort und erreichen ein Viertel, in dem einst Juden und Muslime Tür an Tür gelebt haben sollen. Mit der christlichen Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts habe allerdings auch die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Religionen in Vejer de la Frontera geendet, so Acuña. Muslime und Juden mussten entweder zum Christentum konvertieren oder die iberische Halbinsel verlassen.

„Geblieben sind damals die Ärmeren und Familien mit vielen Kindern. Die, die ins Exil gingen, hatten auch die finanziellen Mittel dafür.“ Fast alle dieser wohlhabenden jüdischen und muslimischen Familien hätten wohl den Plan gehabt, irgendwann zurückzukehren. Doch dazu sei es in den allermeisten Fällen nie gekommen.

© dpa-infocom, dpa:220713-99-08360/7

north