Wirtschaftswachstum: Ukraine-Krieg bremst Konjunktur aus | FLZ.de

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Veröffentlicht am 29.07.2022 10:14

Wirtschaftswachstum: Ukraine-Krieg bremst Konjunktur aus

Containerschiffe liegen am Containerterminal Burchardkai in Hamburg. Das Bruttoinlandsprodukt stagniert. (Foto: Christian Charisius/dpa)
Containerschiffe liegen am Containerterminal Burchardkai in Hamburg. Das Bruttoinlandsprodukt stagniert. (Foto: Christian Charisius/dpa)
Containerschiffe liegen am Containerterminal Burchardkai in Hamburg. Das Bruttoinlandsprodukt stagniert. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Die Folgen des Ukraine-Krieges haben das Wirtschaftswachstum in Deutschland nach einem unerwartet kräftigen Jahresstart im zweiten Quartal abgewürgt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stagnierte gegenüber dem ersten Vierteljahr, wie das Statistische Bundesamt am Freitag in einer ersten Schätzung mitteilte.

Europas größte Volkswirtschaft steckt damit in einer schwierigen Gemengelage aus hoher Inflation und stagnierender Wirtschaftsleistung. Ökonomen sprechen von einer Stagflation. Sie schließen einen Konjunktureinbruch in den kommenden Monaten nicht aus. Das Risiko einer Rezession ist aus ihrer Sicht gestiegen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete die wirtschaftliche Lage in Deutschland als zugespitzt.

Immerhin startete Europas größte Volkswirtschaft unerwartet kräftig in das schwierige Jahr. Nach den jüngsten Daten der Wiesbadener Behörde legte das Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal gegenüber dem Vorquartal um 0,8 Prozent zu. Das war deutlich mehr als die zunächst berechneten 0,2 Prozent. Gute Nachrichten kamen auch vom Arbeitsmarkt, der der Konjunkturflaute weiter trotzt.

Die Zahl der Arbeitslosen stieg im Juli zwar um 107.000 auf 2,47 Millionen. Hintergrund ist vor allem die weitere Erfassung ukrainischer Kriegsflüchtlinge in der Arbeitsmarktstatistik. „Insgesamt ist der Arbeitsmarkt trotz aller Belastungen und Unsicherheiten weiterhin stabil“, sagte Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit am Freitag.

Der Ukraine-Krieg, gestörte Lieferketten, steigende Preise und Corona-Lockdowns in Teilen Chinas bremsten die deutsche Wirtschaft im Frühjahr aus. Gestützt wurde die Konjunktur nach Angaben der Wiesbadener Behörde vor allem von den privaten und staatlichen Konsumausgaben. Der Außenbeitrag - also das Verhältnis von Exporten zu Importen - dämpfte dagegen das Wachstum.

Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer ist vorerst keine Besserung in Sicht. „Das Rezessionsrisiko steigt. Wie sich die Wirtschaft am Ende tatsächlich entwickelt, hängt vor allem an Putins Gaslieferungen.“

Deutschland, das besonders stark von Gasimporten aus Russland abhängig ist, entwickelte sich im zweiten Quartal deutlich schwächer als der Euroraum insgesamt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der 19 Euroländer legte nach Daten des Statistikamtes Eurostat zum Vorquartal um 0,7 Prozent zu. Besonders kräftig wuchs mit 1,1 Prozent die spanische Wirtschaft. In Italien stieg das BIP um ein Prozent und in Frankreich um 0,5 Prozent.

Der Ukraine-Krieg verschärft Probleme, die der deutschen Wirtschaft schon zuvor zu schaffen machten. Steigende Energiepreise und anhaltende Lieferengpässe belasten die Industrie. Zugleich bremst die höchste Inflation seit Jahrzehnten den privaten Konsum, der eine wichtige Stütze der deutschen Konjunktur ist.

Nach Angaben der GfK-Konsumforscher hat sich das Ausgabeverhalten der Menschen in Deutschland inzwischen spürbar verändert. Bei Gütern des täglichen Bedarfs wie Lebensmitteln oder Körperpflegeprodukten schnallen Verbraucherinnen und Verbraucher demnach den Gürtel enger. Die Konsumlaune sank zuletzt auf ein Allzeittief.

Die Stimmung in den Unternehmen verschlechterte sich ebenfalls deutlich. Das Ifo-Geschäftsklima, für das etwa 9000 Unternehmen ihre gegenwärtige Geschäftslage und die Erwartungen für die nächsten sechs Monate beurteilen, sank im Juli auf den niedrigsten Stand seit gut zwei Jahren. „Deutschland steht an der Schwelle zur Rezession“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest.

Nach Einschätzung von Jan Holthusen, Konjunkturexperte bei der DZ Bank, dürfte die Stagnationsphase noch bis ins kommende Jahr anhalten. „Angesichts einer drohenden Rationierung von Energie ist auch eine rückläufige Wirtschaftsleistung im Winterhalbjahr nicht auszuschließen.“

Konjunkturexperte Nils Jannsen vom Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) hält eine Rezession allerdings noch nicht für ausgemacht. Dagegen spreche, dass bei privaten Haushalten nach den beschränkten Konsummöglichkeiten in der Pandemie weiterhin Nachholbedarf bestehe. Zudem seien die Auftragsbücher der Unternehmen gut gefüllt. Viele Firmen können wegen Materialmangels und Lieferengpässen die Bestellungen derzeit allerdings nicht im gewohnten Tempo abarbeiten.

Schrumpft die Wirtschaftsleistung zwei Quartale in Folge, sprechen Ökonomen von einer „technischen Rezession“. Das bedeutet keinen Konjunktureinbruch im Gesamtjahr. Nach der jüngsten Prognose der EU-Kommission wird Europas größte Volkswirtschaft dieses Jahr voraussichtlich um 1,4 Prozent zulegen. Der Internationale Währungsfonds traut Deutschland im Gesamtjahr ein Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent zu.

Angesichts der schwierigen Lage forderte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Martin Wansleben. „Wir müssen umschalten.“ Unter anderem müssten die Unternehmen auch steuerlich entlastet werden, um notwendige Investitionen zu finanzieren.

Die Wirtschaft Frankreichs ist im Frühjahr indes wieder gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal um 0,5 Prozent, wie das Statistikamt Insee am Freitag mitteilte. Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire sprach nach einer Regierungssitzung in Paris von einem „Sieg der französischen Wirtschaft in diesen schwierigen Zeiten“.

Experten waren im Schnitt von einem Zuwachs um 0,2 Prozent ausgegangen. Das Wachstum folgt auf einen Rückgang der Wirtschaftsleistung im ersten Quartal um 0,2 Prozent. Getragen wurde die Entwicklung laut Insee vor allem durch den Außenhandel. Die Exporte stiegen um 0,8 Prozent, während die Importe um 0,6 Prozent zurückgingen. Der Beitrag der Inlandsnachfrage war neutral: Während der heimische Konsum zurückging, stiegen die Investitionsausgaben an.

© dpa-infocom, dpa:220729-99-199412/6

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