Krieg in der Ukraine: So ist die Lage | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 22.06.2022 05:15

Krieg in der Ukraine: So ist die Lage

In der ostukrainischen Region Charkiw kamen durch russische Angriffe mehrere Menschen ums Leben. (Foto: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa)
In der ostukrainischen Region Charkiw kamen durch russische Angriffe mehrere Menschen ums Leben. (Foto: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa)
In der ostukrainischen Region Charkiw kamen durch russische Angriffe mehrere Menschen ums Leben. (Foto: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa)

Kurz vor der Entscheidung über einen möglichen Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat hat Präsident Wolodymyr Selenskyj weitere Sanktionen gegen Russland gefordert.

„Russland muss den wachsenden Druck infolge des Kriegs und seiner aggressiven antieuropäischen Politik spüren“, sagte der ukrainische Staatschef in seiner Videobotschaft in der Nacht zu Mittwoch. In Gesprächen mit mehreren europäischen Staats- und Regierungschefs habe er betont, dass ein siebtes Sanktionspaket so schnell wie möglich benötigt werde.

Im Osten der Ukraine gehen die Gefechte derweil weiter, zum Teil droht die Einkesselung ukrainischer Truppen. Das durch russische Streitkräfte besetzte Gebiet um die Stadt Cherson hingegen werde allmählich zurückerobert, sagte Selenskyj.

Bei den Getreideexporten aus der Ukraine könnte es bald Bewegung geben - kommende Woche sollen nach Kreml-Angaben Vertreter der Türkei nach Moskau reisen, um Gespräche über die blockierten Ausfuhren zu führen, die zu gefährlichen Versorgungsengpässen gerade in Entwicklungsländern führen.

Selenskyjs Wirtschaftsberater Alexander Rodnyansky äußerte sich überzeugt von einem Sieg seines Landes gegen den russischen Aggressor. „Wir können den Krieg gewinnen“, sagte er in der ARD-Sendung „Maischberger“. Er hoffe, dass im August die Gegenoffensive beginnen könne. Die Unterstützung aus dem Ausland helfe sehr und komme auch an, aber bis die Waffen eingesetzt werden könnten, dauere es eben. Der Illusion eines nachhaltigen Friedens mit Russland dürfe man sich jedenfalls nicht hingeben. Unter Präsident Wladimir Putin gehe es dem Nachbarland um Imperialismus - „und dabei wird es auch bleiben“.

In sechs Häfen der Ukraine hängen nach russischen Angaben derzeit 70 Schiffe aus 16 Staaten fest. Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge können sie wegen des Beschusses durch ukrainische Kräfte und hoher Minengefahr nicht ungehindert aufs Meer fahren. Die Ukraine - einer der größten Getreideexporteure der Welt - kritisiert hingegen, dass Russland durch eine Blockade ukrainischer Häfen die Ausfuhr von Getreide verhindere und damit eine Lebensmittelkrise provoziere. Auch die internationale Gemeinschaft fordert von Russland seit Wochen, den Export von ukrainischem Getreide zu ermöglichen.

In der ostukrainischen Region Charkiw seien durch russische Angriffe 14 Erwachsene und ein Kind getötet worden, teilte Gouverneur Oleh Synjehubow am Dienstag im Nachrichtendienst Telegram mit. 16 weitere wurden demnach verletzt. In der Region Donezk wurde nach Angaben von Gouverneur Pawel Kyrylenko ein Zivilist getötet, 19 weitere Menschen seien verletzt worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.

Im Kampf um das Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine droht den ukrainischen Truppen ein weiterer Rückschlag: „Der Feind versucht die volle Kontrolle über Sjewjerodonezk herzustellen und Einheiten der Verteidigungskräfte in den Ortschaften Boriwske und Woronowe zu blockieren, die Kampfhandlungen halten an“, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Mittwoch mit. Boriwske und Woronowe sind zwei Vororte Sjewjerodonezks am Ostufer des Siwerskyj Donez. Im gleichen Gebiet hatten die Russen erst am Wochenende die Ortschaft Metjolkine eingenommen.

Laut dem Lagebericht konzentrieren die russischen Truppen ihre Offensivbemühungen im Donezker und Luhansker Gebiet auf den Raum zwischen Sjewjerodonezk und Bachmut. In dem Ballungsraum droht ukrainischen Einheiten nach früheren Meldungen südlich der Großstadt Lyssytschansk ebenfalls eine Einschließung.

Die prorussischen Separatisten der Donezker Volksrepublik (DVR) in der Ost-Ukraine haben nach Einschätzung britischer Experten seit Beginn des Krieges enorme Verluste erlitten. Die Truppen hätten rund 55 Prozent ihrer ursprünglichen Kampfstärke verloren, hieß es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums. Daran werde die außergewöhnliche Zermürbung der russischen und prorussischen Truppen in der hart umkämpften Donbass-Region ersichtlich.

Nach Angaben der Separatistenvertreterin Darja Morosowa sind seit Jahresbeginn bis zum 16. Juni 2128 der prorussischen Kämpfer im Gefecht getötet und 8897 verletzt worden. Die britischen Geheimdienste halten es für wahrscheinlich, dass die Separatisten mit veralteter Ausrüstung kämpfen. Auf beiden Seiten werde es entscheidend für den Verlauf des Krieges sein, inwiefern Reserveeinheiten mobilisiert werden könnten, hieß es weiter.

Die Entscheidung über einen möglichen Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat steht inzwischen unmittelbar bevor. EU-Ratspräsident Charles Michel plädiert dafür, sowohl ihr als auch dem kleinen Nachbarn Moldau diesen Status zuzuerkennen. Im jüngsten Entwurf der Abschlusserklärung des am Donnerstag beginnenden EU-Gipfels heißt es: „Der Europäische Rat hat beschlossen, der Ukraine und der Republik Moldau den Status eines Kandidatenlandes zu verleihen.“ Damit würden die 27 Staats- und Regierungschefs, die sich bis Freitag in Brüssel treffen, der Empfehlung der EU-Kommission folgen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ebenfalls aufgefordert, bei ihrem bevorstehenden Gipfel den EU-Kandidatenstatus für die Ukraine zu unterstützen. „Es ist nun am Europäischen Rat zu entscheiden und der historischen Verantwortung gerecht zu werden, vor der wir stehen“, sagte von der Leyen am Mittwoch in Brüssel im Europaparlament. Das Verfahren zur Aufnahme von Ländern wie der Ukraine gründe auf Leistung. „Aber wie wir auf ihre Leidenschaft und ihren Fortschritt reagieren, ist unsere Sache.“

Auch Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat sich vor dem EU-Gipfel nachdrücklich dafür stark gemacht, die von Russland angegriffene Ukraine offiziell zum Kandidaten für einen EU-Beitritt zu erklären. „Wir müssen der Ukraine Hoffnung geben“, sagte sie am Mittwoch in Tallinn bei einem Online-Pressebriefing. Es sei nun der richtige Zeitpunkt, um den gegenwärtig in der Ukraine vorhandenen politischen Willen zu nutzen, die notwendigen Reformen durchzuführen. Ansonsten könnte diese Gelegenheit verpasst werden, sagte Kallas mit Blick auch auf die eigenen historischen Erfahrungen ihres Landes. 

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union entscheiden bei einem Gipfel am Donnerstag in Brüssel darüber, ob die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten bekommt. Kallas zeigte sich zuversichtlich: „Ich freue mich sagen zu können, dass die Zeichen gegenwärtig danach aussehen“, sagte die Regierungschefin. Estland gehört seit 2004 der EU an.

Tausende von Lkw stauen sich derzeit auf der ukrainischen Seite des Grenzübergangs Dorohusk vor der Einfahrt nach Polen. Rund 2900 Lastwagen steckten dort fest, die Wartezeit für die Abfertigung betrage bis zu sechs Tage, sagte eine Sprecherin der Kammer für Finanzverwaltung in Lublin am Mittwoch. Die meisten Lkw sind demnach mit Getreide beladen, aber auch Viehfutter und Lebensmittel gehören zu den Ausfuhrgütern.

Die Ukraine wehrt seit Ende Februar dieses Jahres eine russische Invasion ab. Das Land ist einer der größten Getreideproduzenten der Welt. Russland unterbindet in der Ukraine die Ausfuhr von 20 Millionen Tonnen Getreide vor allem nach Nordafrika und Asien, ein Großteil davon im Hafen von Odessa.

Polen und andere europäische Länder arbeiten daran, die Kapazität von Landrouten zum Transport von ukrainischem Getreide auszuweiten. Erst am Montag wurde die Zahl der Abfertigungsstellen für den Güterverkehr am Grenzübergang Korczowa-Krakowiec von fünf auf zehn erhöht.

© dpa-infocom, dpa:220622-99-750720/7

north