Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage | FLZ.de

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Veröffentlicht am 29.06.2022 05:42

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Zwei Jungen stehen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes in Tschernihiw. (Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa)
Zwei Jungen stehen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes in Tschernihiw. (Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa)
Zwei Jungen stehen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes in Tschernihiw. (Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa)

Im Ukraine-Krieg erleiden die Verteidiger nach russischer Darstellung weiter erhebliche Verluste. Bei Kämpfen an einer Ölraffinerie im Süden der Stadt Lyssytschansk in der Ostukraine seien viele Soldaten regierungstreuer Truppen getötet worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit.

Von den 350 Mann einer Gebirgsjägerbrigade seien lediglich noch 30 am Leben. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Zudem seien eine Ausbildungsbasis für ausländische Söldner in der Nähe der Stadt Mykolajiw im Süden sowie vier Kommandoposten zerstört worden, hieß es weiter.

Dem Verteidigungsministerium zufolge wurden außerdem bei Angriffen in der Nähe von Pytomnyk im Charkiwer Gebiet im Osten 100 ukrainische Kämpfer getötet und Militärtechnik vernichtet. Auch in anderen Gebieten seien Kämpfer auf der Seite der ukrainischen Armee getötet worden. Über größere Geländegewinne wurde nichts mitgeteilt.

Unterdessen warfen die Vereinten Nationen der russischen Armee eine völkerrechtswidrige Kriegsführung vor. Die ukrainischen Streitkräfte schienen das humanitäre Völkerrecht „in weitaus geringerem Umfang“ gebrochen zu haben, sagte Matilda Bogner, Leiterin der UN-Menschenrechtskommission in der Ukraine, am Mittwoch in Kiew. Völkerrechtswidrig würden dicht besiedelte Gebiete mit schwerer Artillerie und Mehrfachraketenwerfern beschossen sowie durch Flugzeuge und Raketen aus der Luft angegriffen. „Dabei wurde auch mehrfach Streumunition eingesetzt“, sagte Bogner.

Sie hob besonders den Angriff auf den Bahnhof im von der Ukraine kontrollierten Kramatorsk Anfang April mit 60 Toten und 111 Verletzten hervor. Sie verwies auch auf den Beschuss der von prorussischen Separatisten kontrollierten Großstadt Donezk Mitte März mit 15 Toten und 36 Verletzten mit Streumunition.

Beunruhigend seien sogenannte extralegale Tötungen durch die russische Armee in mehr als 30 Orten in den Gebieten Kiew, Tschernihiw, Sumy und Charkiw im Februar und März, so Bogner. Allein in Butscha bei Kiew seien mindestens 50 Zivilisten rechtswidrig getötet worden. Zudem seien in 248 Fällen Behördenvertreter, Journalisten, Aktivisten und andere Zivilisten von den russischen Kräften willkürlich festgenommen worden oder verschwunden, sagte sie. Acht davon seien tot aufgefunden worden. Es seien auch zwölf Fälle von verschwundenen Menschen dokumentiert, die vorher ins Visier ukrainischer Sicherheitskräfte geraten waren.

Die Vereinten Nationen haben bisher mehr als 4700 getötete Zivilisten erfasst, gehen aber von weitaus höheren zivilen Opferzahlen aus.

Das von russischen Truppen besetzte Gebiet um die ukrainische Stadt Cherson bereitet laut der prorussischen Militärverwaltung bereits ein Referendum für einen Beitritt zu Russland vor. Das sagte der Vizechef der Militär- und Zivilverwaltung von Cherson, Kirill Stremoussow, in einem am Mittwoch beim Nachrichtendienst Telegram veröffentlichten Video. Cherson, dessen gewählter Bürgermeister von russischen Besatzungstruppen festgenommen worden war, solle „ein vollwertiges Mitglied“ Russlands werden. Nach früheren Angaben sollte das Referendum im Herbst stattfinden.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor vier Monaten gibt es immer wieder Berichte darüber, dass Moskau Referenden über einen Beitritt besetzter Gebiete an die Russische Föderation anstrebt. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte kürzlich gesagt, eine solche Entscheidung treffe nicht die russische Führung, sondern allein die Bevölkerung in den Regionen unter russischer Kontrolle.

Allerdings geht die ukrainische Regierung davon aus, dass solche angeblichen Volksabstimmungen nach dem Vorbild der annektierten Krim sowie der ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk nur mit Zustimmung oder eher auf Anordnung Moskaus möglich sind.

Russlands enger Verbündeter Syrien hat die beiden ostukrainischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk offiziell als unabhängige Staaten anerkannt. Das meldete die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana am Mittwoch unter Berufung auf das Außenministerium in Damaskus. Es sollten mit beiden „Ländern“ Gespräche geführt werden, um diplomatische Beziehungen aufzunehmen.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die beiden Separatistengebiete kurz vor dem Überfall auf die Ukraine Ende Februar unter großem internationalen Protest als unabhängige „Volksrepubliken“ anerkannt. Nach offizieller Lesart des Kreml sollen sie von ukrainischen Nationalisten „befreit“ werden. Beobachter sehen darin einen Vorwand für den Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Syrien ist nach Russland das erste Land, das die Separatistengebiete als Staaten anerkennt. Moskau ist im syrischen Bürgerkrieg neben dem Iran der engste Verbündete der Führung in Damaskus. Nicht zuletzt dank des russischen Militäreinsatzes kontrollieren die Anhänger von Machthaber Baschar al-Assad wieder rund zwei Drittel des Landes.

Die von der Nato angekündigte drastische Aufstockung der schnellen Einsatztruppe wird die Bundeswehr nach Einschätzung der Wehrbeauftragten des Bundestages, Eva Högl, schwer belasten. „Absehbar ist, dass die Anforderungen an Deutschland steigen werden. Für die Bundeswehr bedeutet das eine enorme Herausforderung und erfordert große Anstrengungen hinsichtlich Personal, Material, Ausrüstung und Infrastruktur“, sagte Högl der „Augsburger Allgemeinen“. Die Nato will vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs die Zahl ihrer schnellen Eingreifkräfte von rund 40.000 auf mehr als 300.000 erhöhen.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesinnenministerin Nancy Faeser planen im Juli eine gemeinsame Reise in die Ukraine. Das kündigten beide SPD-Politiker am Mittwoch am Rande eines Treffens mit Schülern einer Integrationsklasse an einem Berliner Gymnasium an. Man wolle mit den ukrainischen Amtskollegen unter anderem über Integrationsperspektiven von nach Deutschland geflüchteten Menschen reden, sagte Heil. Er sprach von einem sensiblen Thema. Auf der einen Seite gebe es die Hoffnung der Ukraine auf ein möglichst baldiges Ende des furchtbaren Krieges und eine Rückkehr der Menschen, auf der anderen Seite wisse man nicht, wie lange der Krieg dauere.

Der natürliche Wunsch der Menschen sei, sobald wie möglich die Heimat wiederzusehen. „Aber die schreckliche Realität ist, das wird für viele dauerhaft oder langfristig nicht möglich sein“, sagte der Arbeitsminister. Er sicherte zu: „Wir werden für alle, die hier sind, Integration anbieten und ermöglichen.“

Faeser und Heil tauschten sich etwa eine Stunde lang mit Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine und aus anderen Ländern aus, die in sogenannten Willkommens- oder Integrationklassen zunächst Deutsch lernen. 40 Prozent der aus der Ukraine Geflüchteten seien Kinder, sagte Faeser. Ihren Angaben zufolge kommen täglich momentan zwischen 1000 und 2000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland an. Im März seien es zum Teil 15.000 pro Tag gewesen.

© dpa-infocom, dpa:220629-99-840195/9

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