Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage | FLZ.de

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Veröffentlicht am 16.09.2022 05:35

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Selenskyj spricht von „Massengrab“: In der zurückeroberten Stadt Isjum wurden über 400 Leichen gefunden. (Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa)
Selenskyj spricht von „Massengrab“: In der zurückeroberten Stadt Isjum wurden über 400 Leichen gefunden. (Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa)
Selenskyj spricht von „Massengrab“: In der zurückeroberten Stadt Isjum wurden über 400 Leichen gefunden. (Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa)

In der von russischen Truppen zurückeroberten Region Charkiw haben ukrainische Behörden nach eigenen Angaben Hunderte Gräber und mehrere Folterstätten entdeckt. In der Stadt Balaklija in der Ostukraine seien während der russischen Besatzung bis zu 40 Menschen in der örtlichen Polizeistation festgehalten, erniedrigt und gefoltert worden, sagte Polizeichef Ihor Klymenko laut einer Mitteilung vom Freitag.

„Es gab Folter, wir haben an den Händen der Leute Spuren von nackten Elektrodrähten gesehen, durch die bei Verhören Strom geschickt wurde.“ Es seien auch Hämmer und Schlingen gefunden worden. Zehn Folterkammern seien demnach entdeckt worden. In der Stadt Isjum habe es noch sechs weitere Folterorte gegeben, die aber komplett zerstört worden seien.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach ersten Exhumierungen von Folterspuren an Leichen. „Das muss die ganze Welt sehen“ schrieb er auf Telegram. Der Präsident teilte dazu Fotos von einer Gräberstätte in einem Waldstück bei Isjum. Die US-Regierung nannte die Leichenfunde „absolut verdorben und brutal“.

Ersten Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei den mehr als 440 Grabstätten in Isjum nicht, wie zunächst angenommen, um ein Massengrab, sondern um viele Einzelgräber: „Ich möchte das nicht Butscha nennen - hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt“, der ukrainische Vermisstenbeauftragte Oleh Kotenko dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja. Die Menschen seien den Untersuchungen zufolge ums Leben gekommen, als Russland die Stadt Ende März heftig beschossen habe. Die Bestatter hätten zum Teil nicht gewusst, wer die vielen Toten seien. Deshalb stünden auf einigen Kreuzen nur Nummern. Die Anzahl der Leichen und ihre Identität ist bislang unbekannt.

Ende März waren in dem Kiewer Vorort Butscha nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte getötete Zivilisten teils mit Folterspuren gefunden worden. Butscha gilt seitdem als Symbol für schwerste Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar begann.

Isjum im Gebiet Charkiw war Ende März von den russischen Truppen erobert worden - in der vergangenen Woche befreite die ukrainische Armee die Stadt. Die EU erklärte, die vom Kreml befehligte Armee hinterlasse „eine Spur von Blut und Zerstörung“ überall in der Ukraine. Auch eine Sprecherin des UN-Menschenrechtsbüros in Genf nannte die Leichenfunde in Isjum schockierend.

Trotz der Niederlage in Charkiw will Russland die Ostukraine weiter angreifen. „Unsere Offensivoperationen im Donbass werden nicht ausgesetzt, sie gehen in geringem Tempo voran“, sagte Kremlchef Wladimir Putin auf dem Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) in Usbekistan. „Die russische Armee nimmt immer neue Gebiete ein“, behauptete er. Der Kremlchef warf der Ukraine zudem Anschlagsversuche gegen russische Atomkraftwerke vor und drohte, wenn sich die Lage nicht ändere, werde die Antwort „härter“ ausfallen als vorherige Gegenschläge.

Kanzler Scholz (SPD) werde vor der anstehenden UN-Vollversammlung in New York das Vorgehen des Putins klar als Völkerrechtsbruch benennen, hieß es aus Regierungskreisen in Berlin. Der von Moskau geführte Meinungskrieg dürfe nicht unterschätzt werden. Mit Blick auf die ablehnende Haltung des Kanzlers zur Lieferung von Kampfpanzern hieß es, hier stehe keine Veränderung an.

Auf einer Tagung der Bundeswehr in Berlin sagte Scholz, dass er im Rückblick härter auf die russische Annexion der Krim 2014 reagiert hätte. Damals, unter der Kanzlerschaft Angela Merkels (CDU), hatte die internationale Gemeinschaft nach der Annexion der Schwarzmeer-Insel Sanktionen gegen Russland verhängt.

Die Ukraine setzt derweil ihre Angriffe auf besetzte Gebiete fort. In der südukrainischen Großstadt Cherson schlugen am Freitag nach russischen Angaben fünf ukrainische Raketen in ein Gebäude der Besatzungsverwaltung ein. Dabei sei mindestens ein Mensch getötet und einer verletzt worden, hieß es. Unabhängig überprüft werden konnte das zunächst nicht.

Den russischen Truppen mangelt es nach britischer Einschätzung im Angriffskrieg gegen die Ukraine an Infanterie und Offiziersnachwuchs. Der Krieg habe erhebliche Auswirkungen auf die russische Personalstärke, teilte das Verteidigungsministerium in London am Freitag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Unter anderem würden die russischen Militärakademien die Ausbildungskurse für die Kadetten kürzen und Abschlusstermine vorziehen. „Dies geschieht mit ziemlicher Sicherheit, damit Kadetten eingesetzt werden können, um die Operation in der Ukraine zu unterstützen“, hieß es.

Im von Russland besetzten ostukrainischen Gebiet Luhansk sind örtlichen Angaben zufolge hochrangige Mitglieder der von Moskau gelenkten Separatisten bei einem Anschlag getötet worden. Der Chef der Luhansker Separatisten, Leonid Passetschnik, machte die Regierung in Kiew für den Anschlag verantwortlich. Die Ukraine wies hingegen eine Beteiligung zurück.

Die Ukraine erhält bald Schützenpanzer sowjetischer Bauart aus Griechenland. Athen liefert 40 Panzer des Typs BMP-1 an Kiew, dafür erhält Athen von Deutschland 40 Schützenpanzer Marder aus Industriebeständen, wie das Bundesverteidigungsministerium mitteilte. Mit dem sogenannten Ringtausch sollen ukrainische Streitkräfte zügig mit sowjetischen Systemen versorgt werden, für die sie keine zusätzliche Ausbildung benötigen. Die Länder, die die sowjetischen Waffen abgeben, erhalten dafür westliche Fabrikate.

© dpa-infocom, dpa:220916-99-781358/6

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