Juliette Binoche feudelt „Wie im echten Leben“ | FLZ.de

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Veröffentlicht am 27.06.2022 07:01

Juliette Binoche feudelt „Wie im echten Leben“

Die erfolgreiche Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) nimmt einen Putzjob an. (Foto: -/Neue Visionen Filmverleih/dpa)
Die erfolgreiche Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) nimmt einen Putzjob an. (Foto: -/Neue Visionen Filmverleih/dpa)
Die erfolgreiche Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) nimmt einen Putzjob an. (Foto: -/Neue Visionen Filmverleih/dpa)

In Ouistreham ist die Welt zu Ende, zumindest scheint es so vom bourgeoisen Pariser Stadtrand aus. Die auch von Hauptstädtern gern besuchten Dörfer der Normandie liegen östlich und westlich der kleinen Gemeinde bei Caen.

Für Marianne ist Ouistreham vor allem nächtlicher Hafenkai mit riesigen Fährschiffen. Hierher kommt sie mit ihrer Kolonne. Putzen im Akkord. Juliette Binoche mit Gummihandschuhen. Frankreichs Filmstar greift in „Wie im echten Leben“ sehr beherzt in vermüllte Kabinenkojen und verdreckte Kloschüsseln. Für Mariannes Plan muss sie genau hier sein.

Im wahren Leben, 250 Kilometer entfernt in Paris, ist Marianne erfolgreiche Schriftstellerin. Für ihr nächstes Buch will sie nicht nur schreiben über die Situation von prekären Menschen und ihren von Ausläufern der Krisen geprägten Alltag. Sie will es erleben, erleiden, durchmachen müssen, um authentischer zu sein - wie sie meint.

Marianne meldet sich an der Küste arbeitslos, nimmt einen Job an, wird nach unten weitergereicht. Die Jobs auf den Fähren gelten als besonders hart.

Der französische Regisseur Emmanuel Carrère, als Schriftsteller („Yoga“) mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, konnte für den Film auf eine Vorlage zurückgreifen. In „Putze: Mein Leben im Dreck“ („Quai de Ouistreham“) beschreibt die französische Journalistin Florence Aubenas im Stil von Günter Wallraffs verdeckten Recherchen ihre Erfahrungen in Putzkolonnen.

Binoche verleiht dieser Verwandlung eine überzeugende Hülle. Zumal hinter der Fassade ihrer Reinigungskraft der bürgerliche Teil durchzuschimmern scheint, den auch Marianne nicht ganz verbergen kann. Sie will „die Unsichtbaren sichtbar machen“.

Für den Rollenwechsel hat sie sich eine Begründung zurechtgelegt: „Ich hab es satt, das ständige Gerede von der Krise. Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsbedingungen. Ich muss wissen, was das wirklich bedeutet in der Realität.“

Dieses Leben begegnet ihr mit den Kolleginnen Christèle (Hélène Lambert), Marilou (Léa Carne) und Justine (Emily Madeleine). Sie nehmen Marianne in ihren Kreis auf, teilen Sorge und Nöte, feiern, sofern es was zu feiern gibt. Eine harte, aber verschworene Gemeinschaft am Ende der Job-Kette. Auf den Schiffen zählt nur Zeit. „Fähren sind Kommando-Sache“, sagt Kolonnen-Chefin Nadège (Evelyne Porée).

Doch Marianne gibt ihrem neuen Umfeld auch viele Rätsel auf. Ein Abstecher ans Meer verwirrt Christèle, die mangels Geld im Zweifel auch kilometerweit zur Arbeit läuft. „Ich habe wirklich keine Zeit aufs Meer zu gucken“, sagt Christèle. Mariannes Antwort atmet die Pariser Privilegien: „Dann nehmen wir sie uns einfach.“

Carrère fängt die Härte eines Jobcenters genauso ein, wie er die Romantik einer Strandszene zulässt. Mitunter schrammt der Film am Sozialkitsch entlang. Im Off lässt Carrère Marianne Notizen machen. Wann wird sie wohl den Mindestlohn bekommen, fragt sie sich dann und: reicht es zu einer Festanstellung? Doch es sind nicht nur ihre eigenen Gedanken. In ihrer Unterkunft schreibt sie ganze Dialoge auf. Geistiger Diebstahl bei denen, die ohnehin schon nichts haben.

Das Versteckspiel kann nicht gut gehen. Die Sachbearbeiterin im Jobcenter enttarnt Marianne. „Was wollen Sie denn mit einem Putzjob? Ich hab' Ihr letztes Buch gelesen.“ Marianne kehrt mit ihren Eindrücken an den Schreibtisch zurück. Das Buch wird ein Erfolg - wie die Film-Vorlage im realen Leben.

Wie weit kann der Erfolg eine Rechtfertigung sein für das Versteckspiel, das Spiel auch mit Gefühlen? Marianne scheint sich da irgendwann nicht mehr so sicher. Christèle, Marilou und Justine sehen sich getäuscht. Carrère verschont den Film mit einem Happy End. Der Showdown am Hafenkai von Ouistreham kennt nur Verliererinnen - „Wie im echten Leben“.

Wie im echten Leben, Frankreich 2021, 106 Minuten, FSK 6, von Emmanuel Carrère, mit Juliette Binoche, Hélène Lambert, Léa Carne, Emily Madeleine, Patricia Prieur, Evelyne Porée, Didier Pupin

© dpa-infocom, dpa:220625-99-795927/3

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