In Valencia verschmelzen Tradition und Moderne | FLZ.de

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Veröffentlicht am 06.06.2022 04:33

In Valencia verschmelzen Tradition und Moderne

Die Gebäude des Ensembles „Stadt der Künste und Wissenschaften“ wirken auf den ersten Blick wie Skulpturen. (Foto: Alexandra Frank/dpa-tmn)
Die Gebäude des Ensembles „Stadt der Künste und Wissenschaften“ wirken auf den ersten Blick wie Skulpturen. (Foto: Alexandra Frank/dpa-tmn)
Die Gebäude des Ensembles „Stadt der Künste und Wissenschaften“ wirken auf den ersten Blick wie Skulpturen. (Foto: Alexandra Frank/dpa-tmn)

Am liebsten ist David im Morgengrauen unterwegs, nachdem die letzten Nachtschwärmer die Kneipen und Bars der Altstadt verlassen haben. Wenn die Reisebusse noch keine Urlauber vor dem mächtigen, mittelalterlichen Stadttor Torres de Serranos ausgespuckt haben und bevor die Cafébesitzer ihre Sonnenschirme auf der Plaza de la Virgen aufspannen.

Jenem Platz, an dem die Römer vor rund 2000 Jahren Valencia gegründet haben und wo heute ein figurengeschmückter Brunnen sprudelt.

Im Morgengrauen hat David de Limón das Barrio del Carmen, das älteste Viertel der Mittelmeermetropole, für sich. Doch David zieht es nicht zu den herrschaftlichen Gebäuden, nicht zu der Kathedrale, in der sich große Architekturgeschichte - die Romanik, die Gotik und der Barock - auf kleinstem Raum zeigt. Nicht zu den Museen voller römischer Ruinen oder moderner Kunst.

David zieht es hinein in das Geflecht unzähliger Gassen und verwinkelter Sträßchen, die das Viertel prägen. Das Straßenlabyrinth der Altstadt ist der Kiez des 40-Jährigen, der sich als Street Artist einen Namen gemacht hat. Seine Werke zieren Mauern und Vorsprünge, alte Fassaden und manchmal auch die Fronten von Cafés oder Geschäften - wenn er damit beauftragt wurde.

Die meisten seiner Motive zeigen eine schwarz gekleidete, maskierte Person, oftmals geziert mit einem roten Herz, hin und wieder mit einer Sprühdose in der Hand: ein Streetart-Künstler, der sich wie David hier und da in der Altstadt blicken lässt.

Seit Davids Kindheit hat sich das Barrio del Carmen stark gewandelt. „Früher haben unsere Eltern uns verboten, manche Straßenzüge zu betreten“, sagt er. Viele Häuser, das spürt man noch heute, wurden dem Verfall preisgegeben, galten als gefährliche Drogenumschlagplätze. Doch es hat sich einiges getan.

Stadtbewohner und Zugezogene haben das Straßengewirr neu für sich entdeckt, dessen Gassen und Plätze für Autos weitestgehend gesperrt wurden und zum Flanieren und Entdecken einladen. Und auch die Straßenkunst, die immer schon Teil des Viertels war, wird seit einigen Jahren zunehmend geschätzt und toleriert. Mittlerweile gehört sie genauso zum Barrio del Carmen wie die unzähligen kleinen Tapasbars, Läden und Galerien.

„Valencia hatte immer seine Hoch- und Tiefphasen“, erklärt der Architekt Boris Strzelczyk. Er lebt wie David de Limón im Barrio del Carmen. Es gab Phasen, in denen die Stadt stark wuchs. So wie im 15. Jahrhundert, als Produktion und Handel mit Seide und anderen Gütern Geld in die Stadtkassen spülten und Bauten wie die gotische Seidenbörse entstanden. Heute zählt sie zum Unesco-Weltkulturerbe.

Oder Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Anbau von Orangen Valencia erneut Reichtum bescherte und prächtige Bauwerke im Modernisme, einer Form des Jugendstils, in und um die Altstadt erbaut wurden. Darunter etwa der von Mosaiken gezierte Nordbahnhof.

Heute sind es nach Ansicht von Architekt Strzelczyk vor allem viele, auf den ersten Blick unscheinbare Projekte, die die mit knapp 800 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Spaniens attraktiver machen: Unzählige Radwege, die in den vergangenen Jahren entstanden oder erweitert wurden, wiederbelebte Anwohnermärkte und instandgesetzte Parkanlagen.

Außerdem setzt die Verwaltung auf digitale Serviceangebote, Barrierefreiheit und ein Zurückschrauben des Autoverkehrs. Das Ziel: Die Stadt soll bis 2025 im Tourismus und bis 2030 komplett CO2-neutral werden.

Initiativen, die dazu beitrugen, dass Valencia von einer Jury der EU-Kommission just zur Hauptstadt des intelligenten Tourismus gekürt wurde. Und weil in der Stadt Handwerkskunst und mediterranes Design großgeschrieben werden, darf sie sich noch mit einer weiteren Auszeichnung schmücken: Sie ist Welthauptstadt des Designs 2022 (WDC). „Die meisten Menschen denken bei Design an konkrete Gegenstände“, sagt die WDC-Programmdirektorin Corinna Heilmann. „Dabei kann man auch einen Lebensstil designen.“

Tatsächlich reicht schon ein Blick aus dem Flugzeugfenster beim Anflug auf die Stadt, um zu erkennen, was Valencia außer Gassen voller Street Art und alter Geschichte noch zu bieten hat.

Da wären das tiefe Blau des Mittelmeers und die Strände, die sich wie goldgelbe Streifen daran entlang ziehen. Oder der Jardín del Turia, der längste Park Spaniens, der sich wie ein grüner Gürtel neun Kilometer lang durch die Stadt schlängelt. Und die „Stadt der Künste und Wissenschaften“, ein Ensemble organisch anmutender Bauwerke von Stararchitekt und Stadtsohn Santiago Calatrava, die sich wie riesige Skulpturen im Südosten der Parkanlage erheben.

Maßgeblich für das mediterrane Feeling in der Stadt ist natürlich auch die Sonne. Sie scheint hier an rund 300 Tagen im Jahr.

„In Valencia stimmt das Gesamtpaket“, sagt Corinna Heilmann. Das Flair, die Genusskultur, die lange Handwerks- und Designtradition.

Das finden auch Raquel Vidal und Pedro Paz von Canoa Lab. Die beiden Keramikkünstler haben ihr Atelier in einer ehemaligen Autowaschanlage im quirligen Barrio Ruzafa untergebracht. Einst Sommerresidenz der Mauren ist es heute ein beliebtes Ausgeh- und Shoppingviertel.

„Keramikdesign hat eine lange Geschichte in Valencia“, sagt Raquel, während ihre Finger geschickt den nassen Ton in Form bringen. „Schon seit der Jungsteinzeit wird in dieser Region Keramik gebrannt, später wurden Kacheln und Bodenfliesen von hier aus in alle Welt geliefert.“

Ihre Werke erinnern an Gefäße der Römer und Araber. Damit möchten Raquel und Pedro eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bauen, alte Formen in einen neuen, zeitgemäßen Kontext setzen.

Inspiration finden die Keramikdesigner in der Stadt: In den historischen Museen, in mit Fliesen und Keramikschmuck dekorierten Gebäuden, in den Farben und Formen also, die ihnen Valencia liefert.

Ein Gedanke, den auch Modedesignerin Alba García teilt. Sie knüpft mit ihrem Label Cache Croche an die Seidentradition der Stadt an. Aus alten Stoffen schafft sie patchworkartig neue Kleidung. García greift traditionelle Muster und Motive in ihrer Kollektion auf und recycelt Abfallprodukte: Aus dem Mittelmeer angespülten Plastikmüll säubert sie, schmilzt ihn ein und fertigt daraus Schmuckstücke.

„Für mich ist Slow Fashion wichtig“, sagt García. „Und Kreislaufwirtschaft. Ich will das, was andere wegwerfen, wieder zu Leben erwecken und dabei gleichzeitig an valencianische Traditionen und Geschichte anknüpfen.“

Wie sehr Design und Geschichte in einer Stadt Hand in Hand gehen können, zeigen auch die Werke des preisgekrönten Innendesign- und Produktstudios Masquespacio von Ana Milena Hernández und Christophe Penasse, das längst über Spaniens Grenzen hinweg bekannt ist.

Etwa bei der Gestaltung von La Sastrería, einem Restaurant im maritimen Barrio Cabanyal. „Wir sind tagelang durch das Stadtviertel geschlendert, haben geschaut, was wir hier vorfinden, was diesen Ort ausmacht“, sagt Hernández. „Und das haben wir umgesetzt.“

Das Ergebnis: Hölzerne Stühle mit vertikalen Streben, die an die Boote der Fischer erinnern sollen. Weiß-bläuliche Farben, die an das Zusammentreffen von Strand und Ozean anknüpfen, und glänzend glasierte Fliesen, die Wände und Theke zieren.

Wie die Altstadt befindet sich auch das Stadtviertel Cabanyal, das in der Nähe des Seehafens an den breiten Strand von Malvarrosa angrenzt, seit einigen Jahren im Aufbruch. „17 Jahre lang haben die Bewohner gegen die radikale Neuplanung ihres Viertels protestiert“, erzählt Architekt Boris Strzelczyk.

Die ehemalige Stadtregierung hatte geplant, eine monumentale Allee quer durch das Viertel zu schlagen, was zum Abriss von Hunderten zum Teil denkmalgeschützter Gebäude geführt hätte. Häuser, die die Bewohner des ehemaligen Fischerdorfs Anfang des 20. Jahrhunderts nach dem Vorbild der edlen Modernisme-Bauten in der Innenstadt mit Kacheln und anderen Schmuckelementen geziert hatten. Ein buntes Potpourri an Formen und Farben, bei dem kein Haus dem anderen gleicht.

Seit dieser Plan nach einem Regierungswechsel vom Tisch ist, blüht das Viertel auf. Auch hier sind es Design, Handwerkskunst und Architektur, die versteckte Perlen zu neuem Glanz erwecken.

Ein Beispiel dafür ist das neue Stadtarchiv und Kulturinstitut des Viertels, das bewusst keinen modernen Standort bekommen wird, sondern in einem früheren Schlachthof einziehen wird, der unter Strzelczyks Federführung renoviert und behutsam erweitert wurde.

„Bei der Renovierung haben wir Graffiti, Wandbilder, handbemalte Wandfliesen und die für Valencia typischen Zementfliesen entdeckt, die wir integriert haben“, erklärt der Architekt. Sie wurden entweder direkt vor Ort belassen und hervorgehoben, oder an anderen Stellen im Gebäude verwendet. Ein Nachhaltigkeitsgedanke, den viele Architekten, Handwerker und Designer teilen. Und der die Mittelmeermetropole zu dem macht, was sie ist.

Eine Stadt, die an ihre Traditionen anknüpft und gleichzeitig mit einem guten Gespür für moderne Ideen nach vorne blickt.

© dpa-infocom, dpa:220603-99-538678/2

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