Die Bundesregierung sieht nach dem Karlsruher Haushaltsurteil weitreichende Folgen auch für andere Rücklagen im Bundeshaushalt. Die Kredite aus dem Sondervermögen für die Energiepreisbremsen könnten „im Jahr 2023 nach derzeitiger Rechtslage nicht mehr genutzt werden“, teilte Haushalts-Staatssekretär Werner Gatzer den Ministerien mit. Mit dem Schreiben, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, sperrte er alle weiteren Ausgaben aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds für das laufende Jahr.
Zugleich hieß es aus Kreisen des Finanzministeriums: „Die Auszahlung der Energiepreisbremsen im Jahr 2023 ist nicht betroffen.“ Die bis Ende des Jahres dafür nötigen Mittel seien bereits an die Lieferanten geflossen und daher nicht von der Sperre betroffen.
Auch vom Bundestag zurate gezogene Experten erklärten, das Sondervermögen für die Energiepreisbremsen sei voraussichtlich betroffen. Denn dieses sei 2022 in der Energie-Notlage mit Krediten gefüttert worden, die aber nicht im gleichen Jahr, sondern später genutzt würden.
Genau ein solches Vorgehen habe das Bundesverfassungsgericht kritisiert, argumentierten mehrere Sachverständige in einer Anhörung des Haushaltsausschusses. Damit habe der Bund im laufenden Jahr bereits Geld ausgegeben, das ihm gar nicht zur Verfügung gestanden habe.
Das Verfassungsgericht hatte die Umwidmung von 60 Milliarden Euro im Haushalt 2021 für nichtig erklärt. Das Geld war als Corona-Kredit bewilligt worden, sollte aber nachträglich für den Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft eingesetzt werden. Nun steht es nicht mehr zur Verfügung. Zugleich entschieden die Richter auch, der Staat dürfe sich Notlagenkredite nicht für spätere Jahre auf Vorrat zurücklegen. Stattdessen müsse eine Notlage jedes Jahr neu erklärt werden.
Das Finanzministerium prüft nun, welche Rücklagen im Bundeshaushalt betroffen sind. Weil man noch nicht weiß, wie man mit dem Milliardenloch umgeht, wurden vorsorglich Finanzzusagen aller Ministerien für kommende Jahre im Haushalt gesperrt. Wie geht es nun weiter mit den Etats für dieses und das kommende Jahr - und den langfristigen Investitionen, die Ökonomen weiter für unbedingt nötig halten?
Das Hauptproblem in diesem Jahr dürfte der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) mit den Energiepreisbremsen sein. Aus diesem Topf wurden nach Angaben des Wirtschaftsministeriums in diesem Jahr bis Ende Oktober rund 37 Milliarden Euro an Krediten genutzt. Das ist nach Auffassung der meisten angehörten Sachverständigen Geld, über das die Bundesregierung gar nicht hätte verfügen dürfen. Es seien - wie man jetzt durch das Urteil wisse - Ausgaben verfassungswidrig getätigt worden, sagte der von der Union bestellte Rechtswissenschaftler Hanno Kube.
Dieses Geld jetzt, so kurz vor Jahresende, im regulären Etat noch locker zu machen, scheint ausgeschlossen. In der Ampel-Koalition wird daher erwogen, noch schnell eine Notlage für 2023 zu erklären. Ein solcher Beschluss macht es möglich, eine Ausnahmeregel der Schuldenbremse zu nutzen und die bereits ausgegebenen Kredite nachträglich zu rechtfertigen. Nach Artikel 115 des Grundgesetzes darf der Staat Schulden machen „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“.
Ob eine solche Situation vorliegt, ist umstritten. Der von der AfD bestellte Wirtschaftswissenschaftler Dirk Meyer von der Universität der Bundeswehr sieht dafür kaum eine Grundlage. Anders der Jurist Alexander Thiele, den die SPD in den Bundestag lud: Anfang 2023 seien die Auswirkungen der Energiekrise sehr stark spürbar gewesen, argumentierte er. Auch Kube hält einen Notlagenbeschluss „nicht von vornherein für ausgeschlossen“. Er müsse dann aber auf die 2023 genutzten Kredite aus dem WSF beschränkt sein, da es nur hier einen direkten Zusammenhang zur Energiekrise gebe.
Die Gefahr bei einem solchen Beschluss wäre eine erneute und womöglich erfolgreiche Klage in Karlsruhe. Die Ampel-Koalition könnte versuchen, sich mit der Opposition soweit auf Details zu einigen, dass diese nicht klagt. Doch selbst wenn das klappen sollte, könnte immer noch jede Privatperson vor das Verfassungsgericht ziehen.
Der Ökonom und Berater von Finanzminister Christian Lindner (FDP), Lars Feld, argumentierte in der „Rheinischen Post“: „Hätte der Bund Ende 2022 bei Verabschiedung der Gas- und Strompreisbremsen von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Kenntnis gehabt, hätte er für dieses Jahr die Notlage bemühen müssen, und zwar bezogen auf die Energiekrise, und dies damit auch begründen können.“
Eigentlich wollte der Haushaltsausschuss den Etat für das kommende Jahr an diesem Donnerstag billigen, im Bundestag sollte er am 1. Dezember beschlossen werden. Ob das haltbar ist, ist umstritten. Die Ökonomen plädierten im Ausschuss dafür, mehrere Juristen halten es aber für verfassungsrechtlich schwierig. Denn es sei noch überhaupt nicht entschieden, ob Ausgaben aus den Sondervermögen nun in den Kernhaushalt überführt werden sollten, sagte Kube. „Insgesamt muss also noch mal ein Kassensturz vorgenommen werden.“
Der von den Grünen bestellte Rechtswissenschaftler Henning Tappe dagegen hält einen Beschluss für möglich. Sollte der Bundestag sich dagegen entscheiden, Projekte aus dem Klimaschutzfonds in den Haushalt für 2024 zu übertragen, seien nur redaktionelle Änderungen nötig, sagte er. Eine solche Entscheidung könne etwa getroffen werden, wenn der Klima- und Transformationsfonds (KTF) noch über weitere Mittel verfüge. Der Ökonom Jens Südekum argumentierte, man könne den KTF erst einmal ausklammern, nur den Kernhaushalt beschließen - und später notfalls einen Nachtragshaushalt machen.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sprach sich ebenfalls für einen Beschluss aus. Das Haushaltsgesetz sei die „wichtigste Entscheidung“ des Jahres, betonte er. Vor allem sollten sich die Verbraucherinnen und Verbraucher darauf verlassen können, auch im Januar und Februar von einer gesenkten Mehrwertsteuer bei Gas und Wärme zu profitieren. Außerdem würden soziale Projekte, Freiwilligendienste sowie der Kinder- und Jugendbereich gestärkt. „Ich möchte, dass alle verstehen, dass wir eine große Verantwortung dafür tragen, die Verunsicherung nicht noch größer zu machen“, machte Mützenich deutlich.
Ob und wie genau die langfristige Bewältigung von Krisen durch das Urteil erschwert wird, darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. Jurist Thiele sieht hier Probleme. Denn dann müsste der Bundestag „mit ja seinen veränderlichen Mehrheiten, veränderlichen Herausforderungen“ in jedem Jahr erneut Zahlungsverpflichtungen für die kommenden Jahre eingehen. Im Jahr einer Krise könne der Bundestag Betroffenen etwa einer Flutkatastrophe wie im Ahrtal zur geplanten Hilfe nur sagen: „Wir nehmen uns das ganz fest vor, wir versprechen es euch in die Hand.“ Rechtsverbindlich sei das aber nicht. „Dann ist das Ziel der schnellen Krisenüberwindung möglicherweise gefährdet.“
Ökonom Südekum erklärte, Krisen könnten unter diesen Bedingungen nur noch kurzfristig bewältigt werden, die gerade dann so nötigen Investitionen seien kaum noch durchführbar. Oft wirkten die Folgen eines wirtschaftlichen Schocks schließlich noch Jahre später nach, wenn der Anlass längst passé sei.
Rechtswissenschaftler Kube sah das ganz anders. „Es gibt natürlich ganz viele Möglichkeiten, in die Zukunft zu planen und auch zu kommunizieren in die Öffentlichkeit und in die Wirtschaft hinein“, betonte er und zählte auf: Förderprogramme, Förderbeschlüsse, die mittelfristige Finanzplanung und Verpflichtungsermächtigungen, mit denen der Bund für künftige Jahre Zahlungsverpflichtungen eingeht. Nur müsste der Bundestag dann eben jedes Jahr die Deckung dieser längerfristigen Programme beschließen, mit Beschlüssen zur Feststellung einer Notlage als Ausnahme von der Schuldenbremse oder mit Kreditaufnahmen.
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