Ein Sommer auf Sloweniens Hochalm | FLZ.de

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Veröffentlicht am 30.05.2022 04:03

Ein Sommer auf Sloweniens Hochalm

Žan Potočnik verbringt den Sommer als Hirte auf der Velika planina. Mit Anfang 20 ist er der Jüngste in der Gemeinschaft. (Foto: Arnita Arneitz/dpa-tmn)
Žan Potočnik verbringt den Sommer als Hirte auf der Velika planina. Mit Anfang 20 ist er der Jüngste in der Gemeinschaft. (Foto: Arnita Arneitz/dpa-tmn)
Žan Potočnik verbringt den Sommer als Hirte auf der Velika planina. Mit Anfang 20 ist er der Jüngste in der Gemeinschaft. (Foto: Arnita Arneitz/dpa-tmn)

Es ist fünf Uhr morgens, als Žan Potočnik in seine Holz-Zockeln schlüpft und zu den Kühen geht. Noch bevor das Frühstück für die Menschen auf dem Tisch steht, werden die Tiere versorgt und frische Milch gemolken.

Das war schon immer so auf der Velika planina, einem weitläufigen Hochalmplateau in den slowenischen Steiner Alpen, rund 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt Ljubljana. Hier auf über 1600 Meter Seehöhe wurde über Generationen hinweg eine besondere Hirtenkultur bewahrt.

Sobald der Schnee geschmolzen ist, führen die Hirten aus den umliegenden Dörfern ihre Kühe hinauf in die Berge, damit diese bis in den September hinein die saftigen Kräuterwiesen abgrasen. An die vier Stunden dauert der Aufstieg. Direkt am Hochplateau tummeln sich dann bis zu 500 Kühe. Die Hirten bleiben die ganze Zeit bei den Tieren.

„Früher gab es viele Hirten“, sagt Žan. Mit Anfang 20 ist er mit Abstand der Jüngste in der Hirtengemeinschaft. Es fehlt an Nachwuchs. Kaum noch jemand möchte drei Monate mit harter Arbeit in den Bergen verbringen. Schon gar nicht, wenn das Leben aufs Wesentliche reduziert ist. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser.

Regenwasser sickert in den Boden und wird in einem unterirdischen Reservoir aufgefangen. Solarkollektoren heizen das Wasser auf. Der Müll wird in einer Hütte gesammelt und regelmäßig mit dem Traktor ins Tal gebracht. Sie wissen sich zu helfen hier oben.

Mehr als 100 Hütten gibt es auf der Velika planina, an die 20 Hirten sind aktiv. Während jeder von ihnen früher fünf bis zehn Kühe versorgten, sind es jetzt deutlich mehr.

„Vielleicht wird das Coronavirus das Denken verändern und es in Zukunft wieder mehr Hirten geben“, hofft Žan. Er geht nicht nur den Älteren in der Gemeinschaft zur Hand, sondern wird auch nicht müde, über die alten Bräuche und Traditionen zu sprechen.

Bereits als Kind verbrachte er die Sommermonate bei seiner Großmutter auf der Alm. Von ihr lernte Žan den Umgang mit den Tieren und den Pflanzen. Später nahmen ihm die Älteren unter die Fittiche.

Hirte auf der Velika planina zu werden, ist keineswegs einfach. Es gibt keine Ausbildung. Vielmehr ist es ein Privileg.

Maria Theresia, einstige Erzherzogin von Österreich, gab den Bauern aus den umliegenden Dörfern das Recht, ihre Kühe hier auf der Velika planina weiden zu lassen. Noch heute wird dieses Recht von Generation zu Generation weiter gegeben. Damit verbunden sind einige Pflichten.

Unter den Hirten gibt es eine klare Hierarchie und festgesetzte Regeln. Bei manchen Dingen geht es sogar richtig bürokratisch zu. Alleingänge sind unerwünscht. Entschieden wird gemeinsam. Jeweils zu Beginn des Sommers wird ein eigenes Hirtenparlament abgehalten. Bei diesem werden Aufgaben und Arbeiten verteilt sowie der Milchpreis festgelegt. Jede Kuh bedeutet ein Stimmrecht.

Neben den Tieren kümmern sich die Hirten um die Pflege der Alm. Immerhin gibt es an die 500 Hektar Weidefläche - wer keine Idee hat, wie viel das ist: Das entspricht ungefähr 700 Fußballfeldern.

Die Hirten fällen kranke Bäume, kümmern sich um die Wege, mähen die Wiesen, halten die Hütten in Schuss, achten auf den Naturschutz und produzieren Milch- sowie Käseprodukte.

Vieles wird noch mühsam mit der Hand gemacht. „Der ganze Tag ist mit Arbeit gefüllt“, sagt Žan, der außerhalb der Ferien Politikwissenschaft studiert.

Kreisförmig sind die Holzhütten am Plateau zu einer Siedlung angeordnet. Die Architektur der Hütten erinnert an die Form einer Jurte. Alle sind rund oder oval. Das Dach aus Fichtenholzschindeln reicht bis zum Boden. Sonst sind die Hütten in den Alpen rechteckig.

Seit wann genau es die Hirtenhütten in dieser Form auf der Velika planina gibt, ist nicht bekannt. Besiedelt ist das Plateau bereits lange, wie prähistorische Funde beweisen.

Eine der ältesten, noch bestehenden Hütten stammt aus dem 16. Jahrhundert. Einige Gebäude brannten im Zweiten Weltkrieg nieder und wurden danach wieder aufgebaut.

Dazu gehört die Kapelle Maria Schnee (Marija Snezna). Sie wurde von Sloweniens bekanntesten Architekten Jože Plečnik entworfen. In ihr werden regelmäßig Messen gelesen - sogar an Heiligabend, wenn der Schnee oft schon meterhoch auf den Wiesen liegt.

In den Dolinen und Grotten des karstigen Gebietes blieben Eis und Schnee indes das ganze Jahr über liegen. Das nutzten die Hirten als natürlichen Kühlschrank. In der Veternica-Höhle zum Beispiel.

Die traditionellen Hirtenhütten sind im Schnitt rund zwei Meter breit. Im Zentrum der Hütte ist Platz zum Kochen und Schlafen, eingesäumt vom Stallbereich der Tiere.

Früher sorgten die Tiere in der Nacht für Wärme, dafür wurden sie von den Hirten vor Bären oder Wölfen beschützt. Manche verbrachten dafür die Nacht halbwach auf einem Stuhl. Drohte Gefahr, wurde ein Horn geblasen, sodass die anderen gewarnt waren.

Es gibt viele Legenden und unheimliche Geschichten: Von einem wilden Mann aus einer Höhle, der die Schafe holt, wird erzählt. Oder einer wilden Frau, die die Milch klaut. Damals hatten die Hirten in der Dunkelheit Angst.

Eine Hütte dient heute als Museum, mit Einrichtungsgegenständen und Werkzeugen von damals. Auf Schwarz-Weiß-Fotografien sind Hirten mit ihren langen Mänteln und bei der Herstellung des Trnič zu sehen.

Trnič ist ein typischer Hartkäse, der auf der Velika planina produziert wird. Ähnlich wie Parmesan wird er oft zum Würzen über die Speisen gerieben. Der Trnič schmeckt leicht salzig und ist sehr lange haltbar. „Im Museum steht einer, der ist 30 Jahre alt. Aber essen würde ich den nicht mehr“, sagt die Sennerin Rezka Malijeva und lacht. Sie ist schon über 90, packt aber weiter mit an.

Malijeva holt frischen Käse und geschnitzte Holzstäbe aus der Hütte. Mit den Holzstäben wird ein Muster in den Käse gedrückt: Es besteht aus Alpenblumen wie Edelweiß, Herzchen, Blätter und Kreuzen.

Reich verziert ist der Trnič ein Symbol der Liebe. Er wird immer paarweise in Form einer weiblichen Brust hergestellt. Einst waren die Hirten monatelang alleine auf der Alm und hatten Zeit und Muse für solch aufwendige Schnitzereien.

Als Liebesschwur werden immer zwei Trnič an die Auserwählte überreicht. Gibt sie dem Burschen einen Trnič zurück, teilt sie seine Gefühle. Bekommt er beide Käselaibe zurück, wird es nichts aus seinem Liebesglück.

Für ein Paar „Busenkäse“ braucht es rund zwei Liter Milch. Rezka Malijeva lässt die Kuhmilch zwei Tage stehen, damit sie sauer wird. Dann wird die Milch erwärmt und entrahmt. Der entstehende Frischkäse wird gesalzen und nach vier Tagen Ruhezeit per Hand in Form gebracht. Anschließend muss er mindestens 40 Tage trocknen. Ein Handwerk, das nur wenige Einheimische beherrschen.

Eine andere Spezialität ist Sauermilch mit Buchweizen, ein typisches Gericht der Hirten. Der Sterz - Žganci genannt - kommt als Frühstück, Mittagessen oder Abendessen auf den Tisch. Wenn der junge Hirte Žan bei den Nachbarsfamilien einkehrt, bekommt er noch heute eine Schüssel Sauermilch und eine Schüssel Buchweizen serviert.

Auch Matjaž Šink, Wirt der Hütte „Zeleni rob“, kocht gerne traditionell. Er verließ Ljubljana, wo er sechs Jahre lang ein Restaurant führte, um sich in den Alpen kulinarisch zu verwirklichen. Er suchte nach alten Rezepten und serviert seit einem Jahr „Soulfood“ aus der Vergangenheit.

Dazu gehören ein Schweinsbraten mit Sauerkraut genauso wie deftige Eintöpfe, Krainer Wurst, Hirse und Štruklji - ein gekochter Quarkstrudel mit Grammeln aus Schweinespeck.

„Die Gerichte unserer Großeltern sind fast in Vergessenheit geraten“, sagt der Koch. Bei ihm sollen sich die Gäste wieder an den Geschmack erinnern. Damit das gelingt, nutzt Šink die frischen Zutaten von den Bauern aus der Region. Statt Hamburger gibt es selbst gebackenes Sauerteigbrot, statt süßer Energydrinks ein Glas Milch und zum Schluss ein Stamperl Kräuterschnaps.

Seit 1964 fährt eine Seilbahn auf die Velika planina. Anfangs transportierte sie Arbeiter, jetzt vor allem Touristen. Wer keine vier Stunden den Berg hochlaufen will, nimmt Gondel und Sessellift. Beide haben etwas Retro-Charme, sind aber renoviert.

Wanderer im Sommer und Skifahrerinnen im Winter sehen bei der Fahrt weit über tiefe Schluchten und grüne Wälder bis nach Ljubljana hinab. Die Hauptstadt Sloweniens ist gut 40 Minuten Autofahrt von der Talstation der Gondel entfernt.

Trotzdem scheint die Welt auf der Hochalm eine andere zu sein. Wenn Tagesausflügler die letzte Talfahrt nehmen, wird es friedlich am Berg. Bis auf das Läuten der Kuhglocken ist nichts mehr zu hören.

Die Abende sind erfrischend. Es ist hier im Sommer acht bis zehn Grad kühler als im Tal. Gewitter, Regen, sternenklarer Himmel. Innerhalb einer Stunde ist alles möglich. Die Berge sind unberechenbar. Sie machen demütig und dankbar.

Und langsam ist sie zu spüren, die besondere Energie, von der die Hirten erzählen. Ihre Familien verbringen noch immer den Sommer mit den Kindern in den Hütten. Wenn nicht drei Monate, dann zumindest für ein paar Ferienwochen. Ein Bub folgt Žan auf Schritt und Tritt.

Neugierig lauscht er seinen Geschichten und fragt nach. Vielleicht ist es einer der Nächsten, der das Vermächtnis der Hirten bewahrt.

© dpa-infocom, dpa:220527-99-451376/2

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