Dauerkrise: Wie die Argentinier mit der Inflation umgehen | FLZ.de

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 12.08.2022 08:18

Dauerkrise: Wie die Argentinier mit der Inflation umgehen

Eine Frau zahlt mit einem 1000-Peso-Schein in einer Bäckerei. (Foto: Claudio Santisteban/dpa)
Eine Frau zahlt mit einem 1000-Peso-Schein in einer Bäckerei. (Foto: Claudio Santisteban/dpa)
Eine Frau zahlt mit einem 1000-Peso-Schein in einer Bäckerei. (Foto: Claudio Santisteban/dpa)

Argentiniens neuer Wirtschaftsminister hat ein klares Ziel. „Eines der zentralen Themen meiner Amtszeit wird der Kampf gegen die Inflation sein“, kündigte Sergio Massa kurz nach seiner Vereidigung an. Seine Vorgängerin hatte sich gerade mal einen knappen Monat in dem schwierigen Amt gehalten, Massa will nun das Ruder herumreißen. „Wir müssen mit aller Entschlossenheit gegen die Inflation vorgehen, denn sie ist die größte Fabrik für Armut in diesem Land. Wir in Argentinien leiden darunter und die Welt leidet darunter.“

In dem südamerikanischen Land ist die Inflationsrate mittlerweile auf 71 Prozent gestiegen. Allein im Juli zogen die Preise um 7,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat an, wie das Statistikamt (Indec) am Donnerstag mitteilte. Das ist fast soviel wie in Deutschland im ganzen Jahr. Die linke Regierung von Präsident Alberto Fernández kündigte an, in Abstimmung mit den Unternehmern und den Gewerkschaften die Preise und Löhne für zwei Monate einzufrieren, um die rasante Geldentwertung zu bremsen.

„Wir unternehmen alle notwendigen Anstrengungen, um das Inflationsproblem zu lösen“, sagte Präsident Fernández, wie die argentinische Nachrichtenagentur am Donnerstagabend (Ortszeit) berichtete. „Wisst, dass ich mir des Problems bewusst bin und dass ich jeden Tag darum kämpfe, einen Ausweg zu finden.“ Die regierungskritische Zeitung „La Nación“ sah das am Freitag anders: „Es wäre leichter, die Inflationsrate zu verdauen, wenn die Regierung die Ursachen verstehen, eine Lösung vorschlagen und die besten Leute für die Leitung des Prozesses ernennen würde.“

Der Krieg in der Ukraine, die Unterbrechung der Lieferketten und die hohen Staatsausgaben zur Überwindung der Corona-Krise befeuern wie im Rest der Welt auch in Argentinien die Inflation. Der größte Teil des Problems ist aber hausgemacht: Um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, druckt die Zentralbank ständig frisches Geld. Die Ausweitung der Geldmenge mindert den Wert des Peso.

Während die kräftige Inflation für die Menschen in den meisten Länder etwas Neues ist, sind die Argentinier wahre Inflationsexperten. In den vergangenen 50 Jahren waren die Preise in dem Land nur selten stabil. Ende der 1980er Jahre schnellte die Inflationsrate auf sagenhafte 3000 Prozent. Seit 2018 lag die jährliche Teuerungsrate immer über 30 Prozent. Analysten rechnen für Ende des Jahres mit einer Inflationsrate von rund 90 Prozent.

Um mit den steigenden Preisen mitzuhalten, werden in Argentinien alle sechs Monate die Löhne und Gehälter erhöht - zuletzt um etwa 25 Prozent pro Semester. Oft bleiben die Lohnsteigerungen aber hinter der Inflation zurück, die Beschäftigten müssen Einbußen ihrer Kaufkraft hinnehmen. 37,3 Prozent der Bevölkerung in dem einst reichen Land gelten mittlerweile als arm.

Im Laufe der Zeit haben die Argentinier allerdings eine Reihe von Strategien entwickelt, um die Folgen der Inflation zumindest abzufedern: Da Schulden wegen des Wertverfalls des Peso mit der Zeit immer geringer werden, strecken die Kunden die Bezahlung vieler Produkte über einen möglichst langen Zeitraum. Gerade bei größeren Anschaffungen werden oft Ratenzahlungen ohne Zinsen angeboten, wobei es sich faktisch um einen Preisnachlass handelt. Aber selbst beim Einkauf von Lebensmitteln im Supermarkt fragen die Kassierer stets, ob man die Zahlung auf mehrere Raten verteilen möchte.

Dennoch sorgen die ständigen Preiserhöhungen für große Unsicherheit. „Sowohl kleine Geschäfte als auch große Unternehmen wissen nicht, zu welchem Preis sie ihre Produkte einkaufen und verkaufen sollen“, sagte kürzlich der Wirtschaftswissenschaftler Dante Avaro im Radio. Monatlich werden die Preise erhöht, oft gibt es aber große Preisunterschiede zwischen verschiedenen Geschäften. Ständiges Vergleichen und die Suche nach Sonderangeboten gehört für viele Argentinier zum Alltag.

Das wichtigste Instrument der Argentinier im Kampf gegen die Inflation ist aber der Dollar. Da die Inflation die Ersparnisse in Pesos innerhalb kürzester Zeit auffressen würden, legen die Argentinier jeden überschüssigen Peso in Dollars an. In keinem anderen Land der Welt außerhalb der USA sind so viele Dollarnoten im Umlauf wie in Argentinien. Schätzungen zufolge besitzen die Argentinier 200 Milliarden US-Dollar in bar. Das sind 10 Prozent aller sich im Umlauf befindenden Dollar-Scheine weltweit - und 20 Prozent aller Dollar außerhalb der Vereinigten Staaten.

Weil Argentinien kaum noch über Dollar-Reserven verfügt, dürfen die Argentinier allerdings nur 200 Dollar pro Monat zum offiziellen Wechselkurs von 140 Pesos kaufen. Auf dem Schwarzmarkt kostet der Dollar mehr als doppelt soviel. In der Innenstadt von Buenos Aires locken Geldwechsler die Kunden in die sogenannten „Cuevas“ (Höhlen), um Pesos gegen Dollars zu tauschen. In den eleganten Vororten der Hauptstadt liefern die Schwarzmarkthändler die Dollars nach der Preisverhandlung via WhatsApp frei Haus.

In den ärmeren Vierteln hingegen verabschieden sich immer mehr Menschen ganz von der Geldwirtschaft und verlegen sich wieder auf Tauschhandel. Sie treffen sich in Vereinen oder unter freiem Himmel und tauschen gebrauchte Kleider gegen Lebensmittel und Windeln gegen Baumaterial. Eine Flucht in Sachwerte am unteren Ende der Einkommensskala.

© dpa-infocom, dpa:220812-99-360328/4

north