Fast könnte man meinen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versuche abzutauchen, wenn er während Demonstrationen gegen seine Rentenreform am Dienstag für ein Abendessen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach Deutschland fliegt. Tatsächlich war die internationale Bühne für den Staatschef in den letzten Wochen ein Fluchtpunkt vor lautstarken Protesten, die ihm landesweit entgegenschlugen.
Zum 14. Mal mobilisieren die Gewerkschaften nun zum Protest gegen die Mitte April beschlossene Reform. Am Donnerstag startet auch die Opposition einen letzten Versuch, das Vorhaben zu stoppen - mit einem eigenen, wenig aussichtsreichen Gesetzesentwurf, der die Erhöhung des Rentenalters rückgängig machen soll.
Unbeliebt wie selten und geschwächt stand Macron nach der Entscheidung da, das Rentenalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen. Wie geht es nun mit anderen wichtigen Vorhaben weiter? Und wie bekommt der liberale Staatschef das Ruder wieder fest in die Hand für die vier Regierungsjahre, die noch vor ihm liegen?
Inzwischen mehren sich die Signale, dass Macron mit einer Regierungsumbildung samt Austausch von Premierministerin Élisabeth Borne einen Neustart versuchen könnte. Zwischen Macron und der Regierungschefin knirscht es immer wieder. Für Borne aber spricht neben ihrer Arbeitswut, dass sie die Rentenreform unter widrigen Umständen in trockene Tücher gebracht hat.
Mit eilends angekündigten schnellen Verbesserungen in der Arbeitswelt sowie dem Bildungs- und Gesundheitswesen, allesamt Dauerbaustellen der französischen Politik, hatte Macron bereits versucht, von der Rentenreform weg zu anderen Themen zu gelangen. Steuersenkungen für Menschen mit moderatem Einkommen wurden angekündigt. Schon am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, soll Bilanz gezogen werden. Kraft saugt Macron unterdessen aus der weiter sinkenden Arbeitslosigkeit und aus erfolgreichen Industrieansiedlungen, einer Speerspitze seiner Politik. Seine Beliebtheitswerte und die von Borne steigen leicht an.
Der Erneuerer Macron hatte das in Frankreich sensible Thema Rente eigentlich schon in seiner ersten Amtszeit auf die Agenda gehoben. Nach Gelbwestenprotesten kam jedoch Corona und die Reform wurde abgeblasen. Im Wahlkampf 2022 kündigte der Präsident einen zweiten Anlauf an und warnte die Bevölkerung vor - alle müssten etwas mehr arbeiten. Mit Verlust der absoluten Mehrheit bei der Parlamentswahl vor einem Jahr wurde das schrittweise Anheben des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre dann aber zu einem Kraftakt. Die Unterstützung der konservativen Républicains bröckelte weg. Die Regierung boxte die Reform ohne Abstimmung durchs Parlament - ein Pyrrhussieg.
Um zu beweisen, dass er nicht in innenpolitischer Lähmung gefangen bleibt und weiter Gestaltungskraft in Frankreich hat, will Macron in den nächsten Monaten mehrere große Gesetzesvorhaben voranbringen. Zum einen will er Frankreichs Militärausgaben drastisch erhöhen, von 2024 bis 2030 soll das Budget der Armee auf 400 Milliarden Euro steigen. Breiter Rückhalt gilt als sicher, Diskussionspunkt könnte werden, wie viel Geld in welche Waffensysteme fließt.
Der zweite Testfall für Macrons Reformfähigkeit dreht sich um die Förderung grüner Industrien, von Autobatterien über Wärmepumpen bis hin zu Solar- und Windkraft, zur Stärkung von Frankreichs industrieller Basis. Ansiedlungen sollen beschleunigt und erleichtert werden. Für Diskussionen könnte sorgen, dass der Gesetzesentwurf auch eine Portion Protektionismus enthält. Subventionen für grüne Technologien oder etwa Kaufprämien für E-Autos sollen auf Güter beschränkt werden, deren Herstellung den EU-Umweltvorschriften entspricht. Dies könnte etwa chinesische Produkte ausschließen.
Am schwierigsten umzusetzen sein dürfte die Novellierung des Immigrationsgesetzes. Ein im Februar auf den Weg gebrachter Entwurf wurde auf Eis gelegt, die Républicains als einzige mögliche Unterstützer des Präsidentenlagers legten einen Gegenvorschlag vor, der eher eine rechtsnationale Handschrift trägt. Kompromisslinien zeichnen sich noch nicht ab. Ob das Gesetz im Herbst verabschiedet werden kann, ist offen.
Zu den landesweiten Protesten gegen die Rentenreform, die im September in Kraft tritt, werden am Dienstag 400.000 bis 600.000 Demonstranten erwartet, deutlich weniger als am vorangegangenen Protesttag am 1. Mai. Die Blockadehaltung der Gewerkschaften, die mit den Rentenprotesten erstmals seit Jahren wieder gemeinsam Front machten gegen ein Regierungsvorhaben, hat sich inzwischen wieder gelockert. Zu Beratungen zu anderen Themen kamen sie bereits wieder mit der Premierministerin zusammen.
Und was den Parlamentsvorstoß der Opposition gegen die Reform am Donnerstag angeht, verfügt das Regierungslager über genügend Hebel, um das Ansinnen ins Leere laufen zu lassen.
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